Namenlose Widmung

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

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sedna
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Namenlose Widmung

Beitrag von sedna »

Bin derzeit viel im Spätwerk unterwegs und blättterte so für mich hin ... da fand sich dieser beherzte Entwurf einer namenlosen Widmung. Dieses verblüffende Arrangement! sei hier für Euch aufgehoben. Wer weiß, vielleicht gilt es uns ... :lol:



Wenn Lesen sich auch da als nicht bequem erweist,
sei's ein Begegnen doch mit dieses Geistes Geist.
Aus dem verschlossnen Buch mag soviel übergehn
als wir uns Gegenwart von ferne zugestehn.
Ich sage Gegenwart und meine Gegenwert.
Das Unaussprechliche, das uns von fern vermehrt,
von fern vermindert auch, und fast von ferne bricht:
unwirklicher Besitz und wirklicher Verzicht.


Ragaz, um den 25. August 1926
arme
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Re: Namenlose Widmung

Beitrag von arme »

Hier bin armes ich wieder und kann nicht die Meinung des Gedichts durschauen. Von der Zeile "als wir uns Gegenwart von ferne zugestehen" wird es besonders schwierig. Möchte jemand ein bisschen erklären? bittet arme
helle
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Re: Namenlose Widmung

Beitrag von helle »

Die Verse sprechen ja insgesamt von der Erfahrung des Lesens, von dem, was geschieht, wenn wir durch die Schrift die Zeiten überbrücken und die Stimme eines anderen Menschen vernehmen. Mir fällt dabei Jorges Luis Borges ein, der sagt:

»Von allen Werkzeugen, die der Mensch besitzt, ist das erstaunlichste zweifellos das Buch. Die anderen sind nur verlängerte Werkzeuge seines Körpers: Mikroskope, Teleskope sind eine Verlängerung seiner Sicht; das Telefon ist die Verlängerung seiner Stimme; dann gibt es da noch den Pflug und die Waffen, die nur Verlängerungen seines Armes sind. Aber das Buch ist etwas anderes: Das Buch ist eine Verlängerung des Gedächtnisses und der Vorstellung.«

Darum hat die Lektüre mehr mit der menschlichen Erfahrung im Ganzen, mit unserer geistigen Konstitution überhaupt zu tun. Wir nehmen ja nur teil an der Geschichte der menschlichen Selbstverständigung, sie war vor uns da und wird nach uns da sein. Ich glaube, daß Rilke auch davon spricht. Wir sind durch die Sprache und insbesonders das Lesen imstande, andere, »ferne« Gegenwarten zu teilen (ebenso wie dazu, im Schreiben unsere Gegenwart mitzuteilen). Das ist eine Bereicherung (eine >Vermehrung<) unseres Bewußtseins, die nur scheinbar selbstverständlich ist (eigentlich müßte sie staunen machen und das ist vielleicht ihr Unaussprechliches). Und gleichzeitig relativiert jede über nahe oder ferne Zeiten an uns gelangende fremde Erfahrung unsere eigene, man sieht z.B., daß es kaum etwas gibt, was nicht schon mal in ähnlicher Form gedacht und empfunden wurde, ob es bei Ovid oder bei Goethe oder in einem Gassenhauer steht, und diese Erfahrung der Relativierung des eigenen Denken und Empfindens kann mit »vermindert« und »Verzicht« gemeint sein, sicher nicht ausschließlich, aber ich glaube, sie ist mit gemeint. Die Erfahrung der Literatur ist geistig und immateriell, ihr Schatz sind keine Goldmünzen und in diesem Sinn kann man Besitz und Wert (der »Gegenwert« - sehr selten übrigens, ein solches Wortspiel bei Rilke) vielleicht »unwirklich« nennen (was nicht heißt, daß sie nicht existieren).

Soweit meine etwas unordentlichen Ostermontagvormittagsgedanken
nebst Gruß von helle
stilz
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Re: Namenlose Widmung

Beitrag von stilz »

  • Aus dem verschlossnen Buch mag soviel übergehn
    als wir uns Gegenwart von ferne zugestehn.
Wieviel wir beim Lesen tatsächlich aufnehmen, uns gewissermaßen "einverleiben", das hängt davon ab, wie sehr wir uns einer fremden Gegenwart innerlich öffnen.
Herder formuliert das in der Vorrede zu seinen "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" so:
Johann Gottfried Herder hat geschrieben: Ein Autor, der sein Buch darstellt, gibt, wenn dies Gedanken enthält, die er, wo nicht erfand (denn wie weniges läßt sich in unsrer Zeit eigentliches Neues erfinden?), so doch wenigstens fand und sich eigen machte, ja, in denen er jahrelang wie im Eigentum seines Geistes und Herzens lebte: ein Autor dieser Art, sage ich, gibt mit seinem Buch, es möge dies schlecht oder gut sein, gewissermaße einen Teil seiner Seele dem Publikum preis. Er offenbaret nicht nur, womit sich sein Geist in gewissen Zeiträumen und Angelegenheiten beschäftigte, was er für Zweifel und Auflösungen im Gange seines Lebens fand, mit denen er sich bekümmerte oder aufhalf, sondern er rechnet auch (denn was in der Welt hätte es sonst für Reiz, Autor zu werden und die Angelegenheiten seiner Brust einer wilden Menge mitzuteilen?), er rechnet auf einige, vielleicht wenige, gleichgestimmte Seelen, denen im Labyrinth ihrer Jahre diese oder ähnliche Ideen wichtig wurden. Mit ihnen bespricht er sich unsichtbar und teilt ihnen seine Empfindungen mit, wie er, wenn sie weiter vorgedrungen sind, ihre besseren Gedanken und Belehrungen erwartet. Dies unsichtbare Commercium der Geister und Herzen ist die einzige und größeste Wohltat der Buchdruckerei, die sonst den schriftstellerischen Nationen ebensoviel Schaden als Nutzen gebracht hätte. Der Verfasser dachte sich in den Kreis derer, die wirklich ein Interesse daran finden, worüber er schrieb, und bei denen er also ihre teilnehmenden, ihre bessern Gedanken hervorlocken wollte. Dies ist der schönste Wert der Schriftstellerei, und ein gutgesinneter Mensch wird sich viel mehr über das freuen, was er erweckte, als was er sagte.
Das Ergebnis dieses "Commerciums der Geister und Herzen" könnte man als "unwirklichen Besitz" und als "wirklichen Verzicht" des Lesers ansehen - denn der Leser macht beim Lesen einerseits "virtuelle" Erfahrungen, nicht in Wirklichkeit, sondern "nur" in seinem Bewußtsein; wie helle sagt: es kommt durch das Lesen zu einer eigentlich staunenswerten Bereicherung des Bewußtseins, und
helle hat geschrieben: 2. Apr 2018, 11:09 Die Erfahrung der Literatur ist geistig und immateriell, ihr Schatz sind keine Goldmünzen und in diesem Sinn kann man Besitz und Wert (der »Gegenwert« - sehr selten übrigens, ein solches Wortspiel bei Rilke) vielleicht »unwirklich« nennen (was nicht heißt, daß sie nicht existieren).
Andererseits aber verzichtet der Leser während der Zeit, die er mit Lesen zubringt, gewissermaßen auf sein eigenes "wirkliches" Leben ("real life" nennt man es heute wohl).

Auch das viel frühere Gedicht Der Leser spricht auch von diesem "Verzicht" (Und wir, die Stunden hatten, / was wissen wir, wieviel ihm hinschwand):

Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht
wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten,
das nur das schnelle Wenden voller Seiten
manchmal gewaltsam unterbricht?

Selbst seine Mutter wäre nicht gewiß,
ob er es ist, der da mit seinem Schatten
Getränktes liest. Und wir, die Stunden hatten,
was wissen wir, wieviel ihm hinschwand, bis

er mühsam aufsah: alles auf sich hebend,
was unten in dem Buche sich verhielt,
mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend
anstießen an die fertig-volle Welt:

wie stille Kinder, die allein gespielt,
auf einmal das Vorhandene erfahren;
doch seine Züge, die geordnet waren,
blieben für immer umgestellt.



Ein wenig rätsle ich noch über der ersten Zeile:
  • Wenn Lesen sich auch da als nicht bequem erweist
Wie schade, daß die Rilke-Chronik keine Auskunft darüber gibt, für welches Buch (und welchen Leser, bzw wohl: welche Leserin) Rilke diese Widmung gedacht hatte...


Herzliche Oster-Grüße,
stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
arme
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Re: Namenlose Widmung

Beitrag von arme »

Danke für die schönen und hilfreichen Gedanken! Ich interessierte mich für dieses Gedicht, als ich mit dem "Verzicht" beim Jüngsten Gericht kämpfte. Ich wollte sehen, wie Rilke das Wort anderswo anwendet. Vielleicht hat man hier das gleiche Problem, man weiss nicht, wem auf was verzichtet. Aber die Deutung von Stilz finde ich gut. Und vielleicht kann man auch denken, dass der Schriftsteller auch von sich selbst für den Leser opfert. Und ich habe tatsächlicht versucht, auch dieses Gedicht in meine Muttesprache zu übersetzen. Der Anfang ist ungefähr so geworden:

Wenn Lesen auch nicht inspirieren kann,
(inspirieren statt bequem)

bekommt man da doch Geist von Geist.
(Meint man hier, dass der Leser Geist vom Geist des Schriftstellers bekommt?)

Vom Einband des Buches her strömt uns ferne Wirklichkeit
(Man liest ja nicht ein geschlossenes Buch / Wirklichkeit statt Gegenwart)

so viel wie es Offenheit dafür in uns gibt.
(Offenheit statt sich zugestehen)

Ich meine nicht selbst die Wirklichkeit sondern ihre Messbarkeit,
das Unsagbare was uns…
("meinen" bezieht sich wohl noch auf Unaussprechliche)
(Der Rest war ziemlich einfach, ich konnte ungefähr die enstsprechen Worten anwenden.)

Wenn dieses allzu verwirrt war, könnt ihr es ganz einfach vergessen!

Viele Grüsse, Arme
stilz
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Re: Namenlose Widmung

Beitrag von stilz »

Liebe arme,

danke für die Rückübersetzung aus dem Finnischen!
Das erinnert mich an Abdelwahab und seine vollen (oder halben) Drehungen aus dem Arabischen: Der Duft und Vorfrühling

Deine Übersetzung der ersten Zeile allerdings überzeugt mich nicht:
Rilke:
  • Wenn Lesen sich auch da als nicht bequem erweist,
    sei's ein Begegnen doch mit dieses Geistes Geist.
arme:
  • Wenn Lesen auch nicht inspirieren kann,
    bekommt man da doch Geist von Geist.
Wenn man, wie Du übersetzt, "Geist von Geist bekommt" --- ist das nicht genau das, was man gemeinhin unter "Inspirieren" versteht?
Ich verstehe Rilkes "nicht bequem" nicht als ein Hindernis des Inspirierens: man begegnet dem Geist des Autors auf jeden Fall, wenn man sich auf das Lesen einläßt.
Aber es ist nicht garantiert, daß diese Begegnung angenehm verläuft.
Sie kann sogar äußerst ungemütlich sein, eben unbequem – sei es, indem sie aufrüttelt, statt beruhigend und sanft säuselnd einzulullen – oder sei es, daß man sich anstrengen muß, und ganz ungewohnte Gedanken denken, um überhaupt zu begreifen, wovon die Rede ist...


  • Ich meine nicht selbst die Wirklichkeit sondern ihre Messbarkeit,
für
  • Ich sage Gegenwart und meine Gegenwert.
finde ich hingegen sehr interessant - da würde mich der finnische Wortlaut interessieren: es ist wohl nicht möglich, etwas von Rilkes Wortspiel zu übertragen... ?

Herzlichen Gruß,
stilz
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arme
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Re: Namenlose Widmung

Beitrag von arme »

Danke, stilz, das war schon wieder eine gute Bemerkung, und ich verstehe, wie du meinst. Leider ist das Wort "bequem" hier im Finnischen unbrauchbar. Aber jetzt habe ich gedacht, daß ich es vielleicht mit "trösten" lösen kann: Wenn das Lesen auch nicht trösten kann, bekommt man doch Geist von Geist. Dabei behalte ich -aa, was mir schöne Ende der Zeilen gibt. Ja, Gegenwart und Gegenwert, dieses Wortspiel geht nicht auf Finnisch. Vielleicht kann ich die ganze Strophe hier einkleben, dann kannst du die Zeilen sehen, die dich interessieren:

Jos lukeminenkaan ei oikein jaksa lohduttaa,
siinä kuitenkin henkeä hengestä saa.
Kirjan kansien välistä kaukaista todellisuutta
meihin virtaa sen verran kuin meissä sille avoimuutta.
En tarkoita itse todellisuutta vaan sen mitattavuutta,
sitä sanatonta mikä meitä kaukaa enentää,
kaukaa myös vähentää, melkein murruttaa:
epätodellinen omistus, todellinen luopumus.

Alle Reime stimmen nicht ganz mit Rilkes Modell, aber das finde ich weniger wichtig. Ich strebe nach Zeilen, die kohärent sind und zusammenhalten.

Liebe Grüße von arme
stilz
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Re: Namenlose Widmung

Beitrag von stilz »

Liebe arme,

danke fürs Hereinstellen Deiner Übertragung ins Finnisch!
Leider kann ich nicht Finnisch (über hyvää huomenta, hyvää yötä, yksi, kaksi, kolme und natürlich hyvää ruokahalua :lol: bin ich kaum hinausgekommen...).
Aber ich habe es mal mit google-translate versucht und bekomme heraus:

Wenn du dich nicht wohlfühlst,
aber Geist im Geist bekommt es.
Eine ferne Realität zwischen den Buchdecken
wir fließen zu uns genauso wie wir es tun.
Ich meine nicht die Wirklichkeit selbst, sondern ihre Messbarkeit,
das unausgesprochene Ding, das uns weit entfernt macht,
aus der Entfernung reduziert es auch, fast Slams:
unrealistische Besitzverhältnisse, echte Entsagung.

Abgesehen davon, daß dieses Programm mit der vierten Zeile nicht gut zurechtzukommen scheint und mit „murruttaa“ in der vorletzten Zeile überhaupt überfordert ist, scheint es mir sehr gelungen!

Die Rückübersetzung der ersten Zeile »Wenn du dich nicht wohlfühlst« trifft genau Rilkes Wenn Lesen sich auch da als nicht bequem erweist. Sehr schön!


Nur bei der zweiten Hälfte der drittletzten Zeile zweifle ich, ob das ein Fehler des Übersetzungsprogramms ist:

das unausgesprochene Ding, das uns weit entfernt macht,
Rilke sagt:
Das Unaussprechliche, das uns von fern vermehrt,
--- also es macht, daß wir „mehr“ werden, daß unser Geist „größer“ wird um das, was wir von dem Geist in uns aufnehmen, der zwischen diesen Buchdeckeln festgehalten ist...


Herzlichen Gruß!
stilz
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arme
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Re: Namenlose Widmung

Beitrag von arme »

Liebe stilz!

Fantastisch, daß man so mit den Zeilen herumspielen kann. Die erste Zeile habe ich doch ein bißchen anders übersetzt: "Wenn das Lesen auch nicht trösten kann." Da habe ich -aa zum Reimen bekommen. Und das die Zeile mit dem Vermehren habe ich richtig verstanden, nur das Google-Translate hat es falsch gedeutet. Danke, jetzt fühle ich mich recht sicher.

Übrigens, beim Foren-Übersicht bei mir aktualisieren sich die Beiträge nicht mehr. Ich kann nicht sehen, was der Letzte ist. Es ist immer nur von dir und vom 28. März. Wie ist es bei dir?

mit Frühlingsgrüßen arme
stilz
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Re: Namenlose Widmung

Beitrag von stilz »

Liebe arme,
bei mir funktioniert alles ganz normal - ich verstehe nicht genau, was Du meinst. Du hast ja meinen letzten Beitrag hier in diesem thread (16. April) offenbar gesehen...
Welchen Beitrag vom 28. März meinst Du? Unter "Sunamitismus", oder zum Film Rüdiger Sünners?
Herzlichen Gruß aus sehr sommerlichem Frühling!
stilz
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arme
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Re: Namenlose Widmung

Beitrag von arme »

Also jetzt sehe ich auch deinen letzten Beitrag in der Liste rechts, ich dachte lange, dass sich nichts da rührte. So es war nichts. Bis bald! Arme
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