liebliches zeitiges Licht

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

Antworten
Benutzeravatar
lilaloufan
Beiträge: 863
Registriert: 18. Apr 2006, 18:05
Wohnort: Groß-Umstadt (Südhessen)
Kontaktdaten:

liebliches zeitiges Licht

Beitrag von lilaloufan »

Auf Seite 394 des Nachdrucks der Briefe an Anton Kippenberg (Erstdruck 1941 bei Insel) steht das folgende Gedicht (oder ist es nur eine Strophe aus einem mehrstrophigen Gedicht?):
  • Nein, ich vergesse Dich nicht,
    __________ was ich auch werde,
    liebliches zeitiges Licht,

    __________ Erstling der Erde.
Wie fasst ihr es auf, dass die erste Zeile mit diesem „Nein“ beginnt, geradeso als ob ein unterstelltes Vergessen zu bestreiten wäre?

Und: Ist das Frühlicht des Tages gemeint oder das Licht des ersten Erdenschöpfungs-Tages wie im Stundenbuch: »Dein allererstes Wort war: Licht«?

l.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Re: liebliches zeitiges Licht

Beitrag von stilz »

Dieses Gedicht ist Teil einer Sammlung mit dem Titel:
  • (ENTWÜRFE AUS ZWEI WINTERABENDEN)
und der Widmung:
  • Anton Kippenberg in Freundschaft
    zugewendet zum 22. Mai 1924
In meinem Rilke-Gedichte-Band steht es in dieser Gestalt:
  • Nein, ich vergesse Dich nicht,
    . . . was ich auch werde,
    liebliches zeitiges Licht,

    . . . Erstling der Erde.

    Alles, was du versprachst,

    . . . hat sie gehalten,
    seit du das Herz mir erbrachst

    . . . ohne Gewalten

    Flüchtigste frühste Figur,

    . . . die ich gewahrte:
    nur weil ich Stärke erfuhr,

    . . . rühm ich das Zarte.
Das »Nein« zu Beginn erklärt sich für mich aus den Gedichten davor --- da geht es um das Flüchtige, Vergängliche der Jugendzeit (»Nichts blieb so schön.« oder »Dies ist Besitz: daß uns vorüberflog/die Möglichkeit des Glücks.«...).

Und das „liebliche zeitige Licht“ begreife ich als die »Flüchtigste frühste Figur,/die ich gewahrte«: das Licht, wie es in der Kindheit zum ersten Mal gesehen wurde; nicht als Neugeborenes, sondern bewußt, sodaß man sich daran erinnern kann...

Herzlich,
stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Benutzeravatar
lilaloufan
Beiträge: 863
Registriert: 18. Apr 2006, 18:05
Wohnort: Groß-Umstadt (Südhessen)
Kontaktdaten:

Re: liebliches zeitiges Licht

Beitrag von lilaloufan »

Danke, ganz herzlich. Das beantwortet es mir vollständig und wirklich aufklärend. Ja – danke!

Christoph
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
Antworten