In meinem Rilke-Band (Rainer Maria Rilke. Die Gedichte, Insel Verlag) steht dieses Gedicht in etwas anderer Gestalt – und es ist doch so vieles anders, daß ich es gern nochmal hereinstellen möchte (auch die Bezeichnung „Großes Nocturne“ findet sich bei mir nicht):
- Täglich stehst du mir steil vor dem Herzen,
Gebirge, Gestein,
Wildnis, Un-weg: Gott, in dem ich allein
Steige und falle und irre . . ., täglich in mein
gestern Gegangenes wieder hinein
kreisend.
Weisend greift mich manchmal am Kreuzweg der Wind,
wirft mich hin, wo der Pfad beginnt,
oder es trinkt mich ein Weg im Stillen.
Aber dein unbewältigter Willen
zieht die Pfade zusamm wie Alaun,
bis sie, als alte haltlose Rillen,
Sich verlieren ins Abgrundsgraun . . .
Laß mich, laß mich, die Augen geschlossen,
wie mit verschluckten Augen, laß
mich, den Rücken an den Kolossen,
warten, an deinem Rande, daß
dieser Schwindel, mit dem ich verrinne
meine hingerissenen Sinne
wieder an ihre Stelle legt.
Regt sich denn Alles in mir? Ist kein Festes,
Das bestünde auf seines Gewichts
Anrecht? Mein Bangestes und mein Bestes . . .
Und der Wirbel nimmt es wie nichts
Mit in die Tiefen . . .
Gesicht, mein Gesicht:
wessen bist du? für was für Dinge
Bist du Gesicht?
Wie kannst du Gesicht sein für so ein Innen,
drin sich immerfort das Beginnen
mit dem Zerfließen zu etwas ballt.
Hat der Wald ein Gesicht?
Steht der Berge Basalt
gesichtlos nicht da?
Hebt sich das Meer
nicht ohne Gesicht
aus dem Meergrund her?
Spiegelt sich nicht der Himmel drin,
ohne Stirn, ohne Mund, ohne Kinn?
Kommen einem die Tiere nicht
manchmal, als bäten sie: nimm mein Gesicht?
Ihr Gesicht ist ihnen zu schwer,
und sie halten mit ihm ihr klein-
wenig Seele zu weit hinein
ins Leben. Und wir?
Tiere der Seele, verstört
von allem in uns, noch nicht
fertig zu nichts, wir weidenden
Seelen,
flehen wir zu dem Bescheidenden
nächtens nicht um das Nicht-Gesicht,
das zu unserem Dunkel gehört?
Mein Dunkel, mein Dunkel, da steh ich mit dir,
und alles geht draußen vorbei;
Und ich wollte, mir wüchse, wie einem Tier,
eine Stimme, ein einziger Schrei
für alles –. Denn was soll mir die Zahl
der Worte, die kommen und fliehn,
wenn ein Vogellaut, vieltausendmal,
geschrien und wieder geschrien
ein winziges Herz so weit macht und eins
mit dem Herzen der Luft, mit dem Herzen des Hains
und so hell und so hörbar für Ihn . . . . :
der immer wieder, sooft es tagt,
aufsteigt: steilstes Gestein.
Und türm ich mein Herz auf mein Hirn und mein
Sehnen darauf und mein Einsamsein:
Wie bleibt das klein,
weil Er es überragt.
Ich dachte bei diesem außergewöhnlichen Gedicht zunächst nicht an Rodin und seine „porte de l’enfer“, sondern an den Beginn des (1903 entstandenen)
Buches von der Armut und vom Tode:
- Vielleicht, daß ich durch schwere Berge gehe
in harten Adern, wie ein Erz allein;
und bin so tief, daß ich kein Ende sehe
und keine Ferne: alles wurde Nähe
und alle Nähe wurde Stein.
Ich bin ja noch kein Wissender im Wehe, -
so macht mich dieses große Dunkel klein;
bist Du es aber: mach dich schwer, brich ein:
daß deine ganze Hand an mir geschehe
und ich an dir mit meinem ganzen Schrein.
Du Berg, der blieb da die Gebirge kamen, –
Hang ohne Hütten, Gipfel ohne Namen,
ewiger Schnee, in dem die Sterne lahmen,
und Träger jener Tale der Cyclamen,
aus denen aller Duft der Erde geht;
du, aller Berge Mund und Minaret
(von dem noch nie der Abendruf erschallte):
Geh ich in dir jetzt? Bin ich im Basalte
wie ein noch ungefundenes Metall?
Ehrfürchtig füll ich deine Felsenfalte,
und deine Härte fühl ich überall.
Doch wenn ich die nächsten Zeilen lese:
- Oder ist das die Angst, in der ich bin?
die tiefe Angst der übergroßen Städte,
in die du mich gestellt hast bis ans Kinn?
O daß dir einer recht geredet hätte
von ihres Wesens Wahn und Abersinn.
Du stündest auf, du Sturm aus Anbeginn,
und triebest sie wie Hülsen vor dir hin . . .
Und willst du jetzt von mir: so rede recht, -
so bin ich nichtmehr Herr in meinem Munde,
der nichts als zugehn will wie eine Wunde;
und meine Hände halten sich wie Hunde
an meinen Seiten, jedem Ruf zu schlecht.
Du zwingst mich, Herr, zu einer fremden Stunde.
--- dann habe ich zwar noch immer nicht den Eindruck, daß Rilke Rodins Plastik meint. Aber könnte es sein, daß Rilke dasselbe meint wie das, was Rodin in seiner Plastik darzustellen versucht?
Und zwar auch schon im Stunden-Buch?
Das nächste Gedicht beginnt - beinahe möchte ich sagen: folgerichtig - so:
- Mach mich zum Wächter deiner Weiten,
mach mich zum Horchenden am Stein,
...
Da denke ich auch noch an eine der Geschichten vom lieben Gott,
Von einem, der die Steine belauscht – womit allerdings nicht Rodin, sondern Michelangelo gemeint ist...
Ganz herzlichen Dank für diese Frage - die für mich auch zu einem Hinweis auf
dieses youtube-Video wurde.
Die Künstlerin (die sich übrigens
RilkeForum nennt) schreibt dazu:
V. Spillner hat geschrieben:Dieses lange, dunkle Gedicht (Täglich stehst Du mir steil vor dem Herzen, aus: Die Gedichte (1906-1910)) habe ich in bewegten Bildern von Rodins Höllentor gelesen und mit Prokofievs Symphony No.5 in B flat Op.100 III. Adagio I. Parte kombiniert.
Du sagst zu der Frage, ob dieses Gedicht etwas mit Rodins „Höllentor“ zu tun habe:
lilaloufan hat geschrieben: – nach meinem gefühlsmäßigen Verständnis wollte ich allerdings ja sagen; es wäre jedenfalls sicher ein spannender Interpretationsansatz.
Ich stimme Dir zu und antworte nun selbst auf diese Frage:
Spätestens seit es dieses Video gibt, haben Rilkes Gedicht, Rodins Höllentor und auch Prokofieffs fünfte Symphonie ganz eindeutig etwas miteinander zu tun (und hier enthüllt sich wohl auch der Titel „Großes Nocturne“...).
Ich gratuliere V. Spillner zu diesem außergewöhnlichen Kunstwerk, das sich - meinem Empfinden nach - erfolgreich auf die Suche macht nach der Inspiration, die drei Kunstwerke ganz unterschiedlicher Kunstrichtungen gemeinsam haben.
Herzlichen Gruß,
Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)