Dichtung und Philosophie

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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stilz
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Re: Dichtung und Philosophie

Beitrag von stilz »

:lol:

Lieber Vito,

nun hast Du wirklich lange genug „gezappelt“... selbstverständlich lasse ich Dich so schnell wie möglich FREI!!! --- und lege obendrein Wert auf die Feststellung, daß ja nicht ich, sondern Du selber Dich „gefangen“ hast. :D

Es ist natürlich vollkommen in Ordnung, seine Meinung zu ändern und in jedem Jahr anders über ein Thema zu denken.
Aber ich bin nicht sicher, ob Du das in diesem Fall wirklich willst.


Ich habe weiter oben die „Idee“ eines Kunstwerkes mit einem Samen verglichen, und die Frage gestellt, ob ein solcher Same denn überhaupt „falsch“ sein kann.

Worauf ich hinaus will, das ist der Unterschied zwischen den deutschen Begriffen „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ - im Englischen also „truth“ und ... hier tu ich mir schwer, es scheint den Begriff „Wirklichkeit“ im Englischen nicht zu geben („reality“ trifft keineswegs, was ich meine!) ---
I mean: everything that is so much „there“ that it is due to „work“, to „function“ in some way, to „give rise“ to other things, creating more „causes“...
I don’t like the word „effect“ here, as „to be effective“ in my mind is connected to „utility“. And „wirken“ need not be „utilitaristic“ at all!


Aber ich sehe, Du hast selbst längst ausgesprochen, was ich meine:
vivic hat geschrieben:Ich verstehe es nicht ganz. Aber ich benutze es, ich wende es an, es spricht zu mir, ich erlebe es. Und es tut mir gut. Jeden Tag lese ich es. Vielleicht ist das eine Projektion, wie die Psychiater sagen wuerden, aber ich stelle mir vor, dass ich selber das alles gut kenne, ich kenne dieses Starre, dieses Verhaengnis, habe auch schon da gewohnt, und Rilke giebt mir hier seine Unterstuetzung, er giebt mir den Zauberspruch den ich brauche.

in solcher Weise kann "magische" Poesie eine tatsaechliche Wirkung haben in der wirklichen Welt.
Ja.
Das ist es, was ich unter „Wirk-lichkeit“ verstehe.


:wink: ;-)
Ein Freund hat mich vor kurzem auf drei Zeilen von Walt Whitman aufmerksam gemacht, aus seinem Song of Myself:
  • Do I contradict myself?
    Very well then I contradict myself,
    (I am large, I contain multitudes.)


Ja.
Wir alle „enthalten“ ja nicht nur unser Denken, sondern auch unser Fühlen, und sogar auch noch unser Wollen.
Und wenn die drei einander widersprechen (zum Beispiel indem mein Denken die „Idee“ eines Gedichtes „falsch“ findet, mein Fühlen sich aber dennoch zu diesem Gedicht „hingezogen fühlt“) - dann suche ich den Widerspruch zunächst nicht dort draußen im Kunstwerk, sondern drinnen in mir.
Denn ich habe den Eindruck, wenn unser Denken etwas für „falsch“ hält, wozu unser Fühlen sich dennoch hingezogen fühlt, und womit unser Wollen uns daher „umgehen“ läßt --- dann haben wir entweder in unserem Denken oder in unserem Fühlen und Wollen den betreffenden Gegenstand bzw das betreffende Kunstwerk noch nicht vollständig erkannt.


Ich bin mir natürlich dessen bewußt, daß es sehr schwierig sein kann, zu beurteilen, ob nun unser Denken „recht hat“ oder unser Fühlen oder Wollen...
Denn so wie es möglich ist, daß mein Empfinden Dinge erkennt, die sich meinem Denken (noch) nicht erschließen, so ist es auch möglich, daß mein mir nicht vollständig bewußtes Empfinden mich in die Irre leitet, obwohl mein Denken längst klarer sieht...

Ich vermute, daß Dich gerade diese Schwierigkeit Deine Frage stellen ließ, inwieweit die „Wahrheit der Ideen“ den „Wert“ eines Gedichtes bestimmt. Irre ich mich?


Ich hoffe sehr, Du fühlst Dich nun nicht mehr gefangen! :D

Herzlichen Gruß,
Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
vivic
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Re: Dichtung und Philosophie

Beitrag von vivic »

Stilz, du kannst mich nicht befreien, ich zappele weiter, untersuche jetzt wie ich selber Gedichte eigentlich lese, vielleicht nicht kritisch genug, jedenfalls nicht wie Erich Heller. Du, Helle, und andere schreiben so oft in diesem Thema ueber "Gefuehl," zB. Helle: "man kann die Poesie dieser Dichtung nicht von von der Innigkeit des Gefühls trennen, das sich einer anderen Weltordnung als unserer verdankt" ... aber gerade das gefaellt mir so sehr an Rilke, der mich so oft "hinreist und troestet und hilft." Aber Gefuehle sind nicht Ideen, und Heller sagt ja "die Ideen sind die Poesie."

Beispiel: das freie Tier
hat seinen Untergang stets hinter sich
und vor sich Gott, und wenn es geht, so gehts
in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen.


Das ist mir schon jahrzehntelang wie eine Mantra, es hat fuer mich eine unglaublich schoene Melodie, es gibt auch mir einen tiefen, geheimnisvollen Rausch. Das kann mir niemand nehmen; aber mein kritischer Verstand ist da ganz abwesend. Rilke hat naemlich aus Tieren (wie zB auch aus Russen, aus der Armut, usw) etwas Ideales gemacht; man muss nur ein wirkliches Tier einmal objectif beobachten, da kann man sehen was fuer ein Quatsch das ist; Tiere leben meistens in Angst und Gier, ihr Leben ist Fressen und Gefressenwerden... von "Gott" vorlauefig ganz zu schweigen. Aber who cares? It's poetry!!!

Aber das wiederum stoert mich ein wenig. Ich sage nicht gern "nu ja, es ist eben nur ein Gedicht, Dichter koennen erfinden was sie wollen."
Die peinliche Tatsache ist dass ich oft beim Gedichtelesen meine kritische Vernunft abstelle, als ob sie nicht da gehoert, als ob sie da meinen Spass verderben koennte. Was sagt ihr dazu? Soll man das, oder nicht?

Vivic
Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert Stellen ist es noch Ursprung.
stilz
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Re: Dichtung und Philosophie

Beitrag von stilz »

Lieber vivic,

über die Zeilen, die Du zitierst, haben wir vor fast drei Jahren diskutiert - und ebenfalls ausgehend von der Frage, ob "Wahrheit" mit "Schönheit" verknüpft sei (und weil ein Gesprächspartner das für sich ganz deutlich bejahte, konnte er diese Zeilen eben nicht "schön" finden...).
Vielleicht hast Du Lust, etwas davon nachzulesen - es ist ein laaaaanger thread mit einer Fragestellung, die mir nicht besonders am Herzen liegt, und ich verlinke ihn hier nur, weil es darin eben auch um die "Wahrheit" dieser von Dir zitierten Zeilen geht; die Diskussion, die ich meine, beginnt hier.

Herzlichen Gruß!
Ingrid
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helle
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Re: Dichtung und Philosophie

Beitrag von helle »

Das ist nicht nur ein Ideal, was Rilke aus den Tieren »macht« – auch wenn es keine realistische Beschreibung ist. Die hört man im übrigen auch von Menschen, die mit Tieren zu tun haben, Hundehalter, Reiter, Jäger usw., nur selten.

Auch etwa »Der Panther« war keine realistische Beschreibung des Tiers; selten aber wird es so erfaßt wie in Rilke Gedicht – es mag ein einzelner und konkreter Panther sein, aber es ist zugleich der allgemeine Schmerz des eingesperrten, gepeinigten Tieres. Rilke äußert seine »Ideen« über das Tier eben nicht ohne »Gefühle«, was das Verstehen erschweren mag, ich denke, er unternimmt, wie etwa Franz Marc in der Malerei, den Versuch, sich in die Gefühlswelt eines Tier einzufühlen, etwas Empathisches mithin, und daß ihn jene Formen der Bewußtheit interessieren, die ein Tier ausbilden kann, vorsprachliche, instinktive, animistische. Nicht, damit wir nun ins Animalische zurückfallen und keinen Kühlschrank und kein Auto und keine Tretminen mehr haben, wohl aber, weil in der langen Geschichte des Menschen das Tier mit seinen Fähigkeiten eine wichtige Rolle gespielt hat, bis ins 19. Jahrhundert hinein haben die Menschen ja meist noch mit Vieh unter einem Dach gelebt.

Canetti ist ein Autor, der etwas vom Verhältnis des Menschen zum Tier wußte, ich zitiere ein Beispiel aus einer Internetquelle: »Canetti hält die Fähigkeit zur Verwandlung für […] das, was Menschen von Tieren wesentlich unterscheidet, wichtiger noch als Arbeit oder Sprache. Der Bezug zur Jagdgesellschaft ist offenkundig: hier lernte der Mensch, sich in die Tiere seiner Umgebung einzufühlen. Eine Verwandlung zum Zwecke der Täuschung ist allerdings schon eine durch den Trieb nach Macht pervertierte Verwandlung; Canetti nennt diese "dem Machthaber bis zum heutigen Tage geläufige" Form "Verstellung", "die freundliche Gestalt, in der sich eine feindliche verbirgt"«. (http://www.freilach.com/Literatur/CANETTI.HTM)

Das liegt zwar etwas anders als bei Rilke, aber es ist wie bei ihm auch ein Versuch, das Tier nicht allein als Objekt zu sehen. Darum denke ich auch nicht, daß der von Dir, vivic, zitierte Passus aus der achten Elegie schlicht und einfach Blödsinn ist, sondern daß Rilkes Denken über den Tod etwas mit seiner Deutung der Bewußtheit des Tiers zu tun hat, mag fressen und gefressen werden auch ein Gesetz des Lebens sein, in dem im übrigen wir Menschen uns nun gerade nicht von der Tierwelt unterscheiden, wir fressen sie ja auch, und mit Angst und Gier kennen wir uns auch aus. Aber weil er, Rilke, eine Form des In-der-Welt-Seins sucht, die eben nicht vor allem vom Vorlaufen zum Tod bestimmt ist, sondern »jedem Abschied voraus« sein will und daß er darin eine Überlegenheit des Tieres anerkennt. Das sind nun alles nur Andeutungen und nicht ausgeführt, aber sie sind nicht leichtfertig gemeint; vielleicht, das ist jetzt etwas pessimistisch, werden wir ja, wenn wir unser Verhalten gegenüber den Tieren nicht ändern, auch mit uns selbst nicht mehr fertig.

Gruß, h.
vivic
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Re: Dichtung und Philosophie

Beitrag von vivic »

Danke, Ingrid, ich habe die dritte Seite (und leider auch die erste und zweite!) gelesen. Hochinteressant. Uebrigens lese ich ab und zu weiter in des Forums Vorgeschichte und finde da viele gute Arbeit. Du kannst mir immer mal links vorschlagen, denn man kann ja nicht alles lesen.

Nun, hier sind zwei Gedichte, erst Rilke, dann Ludwig Wittgenstein.

„Mit nichts kann man ein Kunst-Werk so wenig berühren als
mit kritischen Worten: es kommt dabei immer auf mehr oder
minder glückliche Missverständnisse heraus. Die Dinge sind
alle nicht so fassbar und sagbar, als man uns meistens glauben
machen möchte; die meisten Ereignisse sind unsagbar, vollziehen
sich in einem Raume, den nie ein Wort betreten hat, und
unsagbarer als alle sind die Kunst-Werke, geheimnisvolle
Existenzen, deren Leben neben dem unseren, das vergeht,
dauert.“

"Meine Saetze erlauetern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht,
am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - ueber
sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen,
nachdem er auf sie hinaufgestiegen ist.)
Er muss diese Saetze ueberwinden, dann sieht er die Welt richtig.
Wovon man nicht sprechen kann, darueber muss man schweigen."

Dieses am Ende LW's Tractatus Logico-Philosophicus.

Zwei ganz nette Meditationsobjekte, finde ich.

Gruesse an alle; Helle, ich werde deine Gedanken noch, na ja, Stilz lacht ueber mein "Ueberlegen," was soll ich sagen? Kauen, verdauen? Vielen Dank!

Vivic
Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert Stellen ist es noch Ursprung.
stilz
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Re: Dichtung und Philosophie

Beitrag von stilz »

Lieber vivic,

seeehr schöne „Meditationsobjekte“, danke!
Du zitierst Ludwig Wittgenstein – und ich möchte einige Gedanken daran knüpfen.

Wittgenstein macht auf eine Grenze aufmerksam – und gleichzeitig auf den Bereich, für den diese Grenze Gültigkeit hat:
»Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.«
und
»Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr – nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken: Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müßten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müßten also denken können, was sich nicht denken läßt).
Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.«


Gleichzeitig geht Wittgenstein aber einen Schritt weiter - indem er auf die „Leiter-Funktion“ der Sprache aufmerksam macht, darauf also, daß »die Sprache, indem sie sich selbst eine Grenze zieht, diese zugleich überschreitet«.


Für mich ist gerade Rilke jemand, der sich an dieser „Grenze der Sprache“ bewegt und dadurch seinen Beitrag dazu leistet, die Grenzen des Denkens zu erweitern – denn sobald etwas einmal in Worten ausgedrückt ist, läßt es sich denken. Und zwar nicht nur von demjenigen, der diesen Gedanken ursprünglich „gefaßt“ hat, sondern auch von demjenigen, der ihn, indem er ihn liest, nach-zu-denken vermag.

Daß Rilke selbst diese „Grenze der Sprache“ sehr deutlich empfand, das kommt nicht nur in dem von Dir zitierten Kappus-Brief zum Ausdruck, sondern zum Beispiel auch in diesem Brief an die Gräfin Sizzo vom 23. Dezember 1923 - es geht hier ganz konkret um den Duft einer Zitrone:
»Ihre Bitterkeit, so zusammenziehend sie im Geschmack sich geltend macht, als Duft eingeatmet, gibt sie mir eine Sensation von reiner Weite und Offenheit - ; wie oft habe ichs bedauert, daß wir allen derartigen Erfahrungen gegenüber so endgültig verstummen, so sprachlos bleiben. Wie erleb ich ihn, den Citronen-Geruch, weiß Gott, was ich ihm zu Zeiten verdanke ..., und wenn ich wirklich, wörtlich wiederholen soll, was er mir in die Sinne diktiert: Fiasko!«

Und dennoch hat Rilke in seinen Gedichten gerade das immer wieder versucht: das eigentlich „Unsagbare“ vielleicht nicht in Worte zu fassen, aber doch zwischen seinen Worten hervorleuchten zu lassen.

Ich habe die zitierte Briefstelle schon früher einmal erwähnt, und ich möchte jetzt noch ein Zitat aus einem Gespräch Rilkes mit Albert Steffen dazustellen, auf das lilaloufan damals aufmerksam gemacht hat:
»„Wir empfangen Eindrücke durch die Sinne“, sagte er, „durch Auge, Ohr, Geschmack. Zwischen diesen Sinnen sind ‚Leerräume’, die zwar bei den Urvölkern noch ausgefüllt sind, aber bei uns erstorben.» Und er zog auf der Papierserviette einen Kreis, den er in einzelne Sektionen teilte, wobei er diese abwechslungsweise schattierte, so dass zuletzt etwas wie eine Scheibe mit schwarzen Keilschriftzeichen entstand. „Diese Teile urbar zu machen, ist nötig“, fuhr er fort, „das gibt genug zu tun.“«

Die „Leerräume“ zwischen den Sinnen „urbar zu machen“ - dazu fällt mir ein Gedicht ein, auf das mich ein Freund vor kurzem aufmerksam gemacht hat. Es beginnt gewissermaßen „synästhetisch", und dann schließt sich ein Kreis zur achten Elegie – denn könnte man nicht sagen: es endet mit der „Freiheit“ des tierischen im Gegensatz zu der „Eingeschlossenheit“ des menschlichen Blickes... ?

  • Schwarze Katze

    Ein Gespenst ist noch wie eine Stelle,
    dran dein Blick mit einem Klange stößt;
    aber da, an diesem schwarzen Felle
    wird dein stärkstes Schauen aufgelöst:

    wie ein Tobender, wenn er in vollster
    Raserei ins Schwarze stampft,
    jählings am benehmenden Gepolster
    einer Zelle aufhört und verdampft.

    Alle Blicke, die sie jemals trafen,
    scheint sie also an sich zu verhehlen,
    um darüber drohend und verdrossen
    zuzuschauern und damit zu schlafen.
    Doch auf einmal kehrt sie, wie geweckt,
    ihr Gesicht und mitten in das deine:
    und da triffst du deinen Blick im geelen
    Amber ihrer runden Augensteine
    unerwartet wieder: eingeschlossen
    wie ein ausgestorbenes Insekt.

    Aus: Der neuen Gedichte anderer Teil


Herzlichen Gruß in die Runde!
Ingrid
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Rastislav
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Re: Dichtung und Philosophie

Beitrag von Rastislav »

Hallo zusammen,

ich möchte eine Bemerkung (Hinweis) zu dem von Ingrid angeführten Gedicht Schwarze Katze schreiben. Ob es auch Beitrag zu dieser sehr intreressanten Diskusion sei, das kann ich nicht ganz gut beurteilen, da ich das späte Werk Rilke’s noch nicht kenne (nicht gelesen habe, bin erst noch an seinem Afgang).
Martin Buber’s Buch Ich und du behandelt (unter anderem auch) die Mensch-Tier-Beziehung. Es beschreibt die traurige Tatsache der Unmöglichkeit, mit einem Tier eine wirkliche ich-du Beziehung aufzunehmen - wie es in den Tieraugen für eien Augenblick vielleicht auch erscheint, gleich hinterher geht es aber hofnungslos verloren...
Buber benutz das Beispiel einer Hauskatze in seiner Auslegung, und das macht wohl, daß ich mir, seit dem ich die Schwarze Katze gelesen habe, seinen Zusammenhag mit diesem Buch nicht aus dem Sinne zu schlagen weiß. Dieser Abschnitt ist im Internet zu finden, es beginnt „Ich sehe zuweilen in die Augen einer Hauskatze“..., jedoch wichtig ist Kontext des Buches. Für mich ist das Buch ein Interpretationsaspekt für dieses Gedicht (es wurde erst mehr als 10 Jahre nach dem Gedicht erschienen) und könnte vielleicht auch für das ganze hierdiskutierte Tierthema wichtig sein.
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Re: Dichtung und Philosophie

Beitrag von Rastislav »

Gerade habe ich ein treffendes Zitat von A. P. Tchechow gelesen:
„Das schönste an der Kunst ist, daß man in ihr nicht lügen kann.“

Einen schönen Gruß an alle!

Rastislav
Rastislav
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Re: Dichtung und Philosophie

Beitrag von Rastislav »

... daß in ihr zu lügen nicht möglich ist.“
vivic
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Re: Dichtung und Philosophie

Beitrag von vivic »

Hello, Freunde, hier bei Ratislav koennten wir auch weiter machen. Etwas eine "Luege" zu nennen ist ja ein Werturteil, besonders in der Kunst. Ich nehme an, dass wir alle verstehen dass Poesie nicht Wissenschaft ist, oder Philosophie, oder dogmatische Religion. Poeten waren ja immer frei, zu erfinden, neue Mythen zu schaffen, Phantasiegebilde, Wunschtraueme, und auch, wie Rilke sagt, "fremdartige Fruechte der Troestung, diese koestlichen."

Aber was machen wir mit Heller, wenn er sagt "mich stoert ein gefährlicher Irrtum: daß Rilke‘s Ideen nicht wichtig sind, weil sie die Ideen eines Dichters sind." Ich weiss nicht genau was hier als eine "Idee" gilt, aber Rilke's "Tier das es nicht giebt" und "die Gaerten, mein Herz, die du nicht kennst" und manche andere Fruechte der Troestung koennen doch "wichtig" sein, ohne sich um das dumme "wahr oder falsch" zu kuemmern. Und ist denn die Schoenheit wirklich nichts als des Schrecklichen Anfang? Ist das Totsein muehsam und voller Nachholn? Woher weiss er das? Sieht das Tier wirklich durch uns durch? Ist die Zeit wirklich nur ein Gespenst? Waeren da nicht logische Debatten absurd und aussichtslos? Sind ja GEDICHTE, Heller, nicht Lehrsaetze.

Also hier stehe ich: das freie Tier hat einen Untergang stets hinter sich, und vor sich Gott, ja, das IST ein "wichtige Idee," und ja, wenn es geht, so gehts in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen," stimmt, UND es ist eine Mythe, ein Wunschtraum, eine herrliche Troestung. Keine Luege. Reine Kunst.

vivic
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Re: Dichtung und Philosophie

Beitrag von stilz »

Vielen Dank, Rastislav und vivic, für die vielen anregenden Denkanstöße!

Leider hab ich grad keine Zeit für Ausführlicheres - aber zum Thema "Wahrheit" ist mir eingefallen, was Abdelwahab hier geschrieben hat:
Abdelwahab hat geschrieben:Die Kunst ist naemlich, so wie die Wissenschaft, ein Mittel der Wahrheitsfindung. Statt dass sie sich allerdings mit den aeusseren Gesetzen der Welt beschaeftigt, findet sie die vorbestimmten Wege immer im tiefsten Inneren unserer Selbst.
Und zur "Wichtigkeit" der Ideen eines "Dichters" denke ich natürlich an das Schillerzitat, das lilaloufan hier hereingestellt hat...

Herzlichen Gruß!
Ingrid
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Re: Dichtung und Philosophie

Beitrag von vivic »

Danke, Stilz, da du mich an Lilaloufan erinnerst: Christoph, du hast noch vor etwa fuenf Wochen in diesem Thema mit einigen Ideen gespielt, so eine Leiter:

1. Schöpfer-Wort
2. Engel-Wort
3. kultisches Wort
4. Propheten-/ Evangelisten-/ Eingeweihten-Wort
5. mantrisches Wort
6. poetisches Wort
7. Gesetzeswort
----------
8. kommunikatives Wort

Wuerde mich interessieren, ob du das weiter entwickelt hast und wohin es gegangen.

Gruesse an alle!

vivic
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lilaloufan
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Re: Dichtung und Philosophie

Beitrag von lilaloufan »

Rastislav hat geschrieben:Martin Bubers Buch: „Ich und Du“ behandelt (unter anderem auch) die Mensch-Tier-Beziehung. Es beschreibt die traurige Tatsache der Unmöglichkeit, mit einem Tier eine wirkliche Ich-Du-Beziehung aufzunehmen - wie es in den Tieraugen für einen Augenblick vielleicht auch erscheint; gleich hinterher geht es aber hoffnungslos verloren…
Buber benutzt das Beispiel einer Hauskatze in seiner Auslegung, und das macht wohl, dass ich mir, seitdem ich die „Schwarze Katze“ gelesen habe, deren Zusammenhang mit diesem Buch nicht aus dem Sinne zu schlagen weiß. Dieser Abschnitt ist im Internet zu finden; ..., jedoch wichtig ist der Kontext des Buches. Für mich ist das Buch ein Interpretationsaspekt für dieses Gedicht (es ist erst mehr als zehn Jahre nach dem Gedicht erschienen) und könnte vielleicht auch für das ganze hier diskutierte Tierthema wichtig sein.
  • Die Augen des Tieres haben das Vermögen einer großen Sprache. Selbständig, ohne einer Mitwirkung von Lauten und Gebärden zu bedürfen, am wortmächtigsten, wenn sie ganz in ihrem Blick ruhen, sprechen sie das Geheimnis seiner naturhaften Einriegelung, das ist in der Bangigkeit des Werdens aus. Diesen Stand des Geheimnisses kennt nur das Tier, nur es kann ihn uns eröffnen, – der sich eben nur eröffnen, nicht offenbaren lässt. Die Sprache, in der es geschieht, ist, was sie sagt: Bangigkeit – die Regung der Kreatur zwischen den Reichen der pflanzenhaften Sicherung und des geistigen Wagnisses. Diese Sprache ist das Stammeln der Natur unter dem ersten Griff des Geistes, ehe sie sich ihm zu seinem kosmischen Wagnis, das wir Mensch nennen, ergibt. Aber kein Reden wird je wiederholen, was das Stammeln mitzuteilen weiß.

    Ich sehe zuweilen in die Augen einer Hauskatze. Das domestizierte Tier hat nicht etwa von uns, wie wir uns zuweilen einbilden, die Gabe des wahrhaft »sprechenden« Blicks empfangen, sondern nur – um den Preis der elementaren Unbefangenheit – die Befähigung, ihn uns Untieren zuzuwenden. Wobei nun aber in ihn, in seine Morgendämmerung und noch in seinen Aufgang, ein Etwas an Staunen und Frage gekommen ist, das dem ursprünglichen, in all seiner Bangigkeit, doch wohl gänzlich fehlt. Diese Katze begann ihren Blick unbestreitbar damit, mich mit dem unter dem Anhauch meines Blicks aufglimmenden zu fragen: »Kann das sein, dass du mich meinst? Willst du wirklich nicht bloß, dass ich dir Späße vormache? Gehe ich dich an? Bin ich dir da? Bin ich da? Was ist das da von dir her? Was ist das da um mich her? Was ist das an mir? Was ist das?!« (»Ich« ist hier eine Umschreibung für ein Wort der ichlosen Selbstbezeichnung, das wir nicht haben; unter »das« stelle man sich den strömenden Menschenblick in der ganzen Realität seiner Beziehungskraft vor.) Da war der Blick des Tiers, die Sprache der Bangigkeit, groß aufgegangen – und da ging er schon unter. Mein Blick war freilich ausdauernder; aber er war der strömende Menschenblick nicht mehr.

    Der Weltachsendrehung, die den Beziehungsvorgang einleitet, war fast unmittelbar die andre gefolgt, die ihn endet. Eben noch hatte die Eswelt das Tier und mich umgeben, ausgestrahlt war einen Blick lang die Duwelt aus dem Grunde, nun war sie schon in jene zurückgeloschen.

    Um der Sprache dieses fast unmerklichen Geistsonnen-Aufgangs und -Untergangs willen erzähle ich die winzige Begebenheit, die mir etliche Male widerfuhr. An keiner anderen habe ich so tief die Vergänglichkeit der Aktualität in allen Beziehungen zu den Wesen erkannt, die erhabene Schwermut unsres Loses, das schicksalhafte Eswerden alles geeinzelten Du. Denn sonst gab es zwischen Morgen und Abend des Ereignisses seinen ob auch kurzen Tag, hier aber flossen Morgen und Abend grausam ineinander, das lichte Du erschien und schwand; war die Bürde der Eswelt wirklich dem Tier und mir einen Blick lang abgenommen worden? Ich konnte mich immerhin noch darauf besinnen, das Tier aber war aus dem Stammeln seines Blicks in die sprachlose, fast gedächtnislose Bangigkeit zurückgesunken.

    Wie ist es doch mächtig, das Kontinuum der Eswelt, und wie zart die Erscheinungen des Du!

    So vieles kann die Kruste der Dinglichkeit nie durchbrechen! O Glimmerstück, welches anschauend ich einst zuerst verstand, dass Ich nicht etwas »in mir« ist, – mit dir war ich dennoch nur in mir verbunden; nur in mir, nicht zwischen mir und dir hat es sich damals begeben. Wenn aber eins hervorsteigt aus den Dingen, ein Lebendes, und mir Wesen wird, und sich in Nähe und Sprache zu mir begibt, wie unabwendbar kurz ist es mir nichts als Du! Nicht die Beziehung ist es, die notwendig nachlässt, aber die Aktualität ihrer Unmittelbarkeit. Die Liebe selber kann nicht in der unmittelbaren Beziehung verharren; sie dauert, aber im Wechsel von Aktualität und Latenz. Jedem Du in der Welt ist seinem Wesen nach geboten, uns Ding zu werden oder doch immer wieder in die Dinghaftigkeit einzugehn.

    Nur in einer, der allumfassenden Beziehung ist die Latenz noch Aktualität. Nur Ein Du hört seinem Wesen nach nie auf, uns Du zu sein. Wohl kennt, wer Gott kennt, die Gottferne auch und die Pein der Dürre über dem geängstigten Herzen, aber die Präsenzlosigkeit nicht. Nur wir sind nicht immer da.



Die rot markierte Buber-Passage wollte ich doch wenigstens in den im Web bisher nicht vollständig abgebildeten Zusammenhang stellen.

@Vivic, Dir antworte ich beizeiten. Ich habe in den letzten Wochen an anderem zu arbeiten gehabt und bin ganz froh, dass Du mich an die Skizze erinnerst. Erst Deine Frage motiviert mich, daran weiterzustricken; danke!

Christoph
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
Rastislav
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Re: Dichtung und Philosophie

Beitrag von Rastislav »

Lilaloufan,

ich danke für diese nützliche Nacharbeit zu meinem Beitrag!

Ich schrieb oben von dem möglichen partiellen Zusammenhag, aber sonst kann ich mir die Ideenwelt des Werkes von Rilke mit der des besagten Buches bisher nicht zurecht verknüpfen. (Die Galaxie RMR und der vorüberfliegende Planet Ich und du scheinen kein gemeinsames Universum zu haben). Vielleicht kommt mir dann eine Aufklärung, beim Lesen des späten Werkes. Weil nach der ersten Frage, mit der vivic diese Diskusion so schön eröffnete, ist eben dies die zweite Frage, die mich betreffs des Werkes RMR interresiert. Ein Philosophenwort, eine kleine schöne Abhandlung tut mir diesbezüglich Not. :) (Lilaloufan, möchtest du dich darauf nicht einlassen? :) ).

Und Entschuldigung dem Forum bitte für diese Abschweifung zu einem nicht-RMR Buch.

Gruß an alle,

Rastislav
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lilaloufan
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Re: Dichtung und Philosophie

Beitrag von lilaloufan »

Rastislav hat geschrieben:…Lilaloufan, möchtest du dich darauf nicht einlassen? :)
Lieber Rastislav,
leider bin ich bisher gar nicht Buber-Kenner. Was mich – seit meinem Beitrag hier <Link> – immer wieder einmal gereizt hat, war, quasi-philosophisch dem Verhältnis der Auffassungen von Menschenliebe bei Rainer Maria Rilke und Emmanuel Levinas nachzuspüren.

Aber:






Hier hatte ich schon sieben Gründe geschrieben, warum es jetzt nicht geht.
Ich hab' sie wieder weggelöscht, weil das allzupersönlich ist und nicht ins Forum gehört.

Vielleicht ist's besser so: „Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und den Mund halten.“ (Oscar Wilde)

Dennoch: Danke fürs Zutrau'n. l.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
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