Und oups.
Lieber lilaloufan,
vielen Dank fürs Aufmerksammachen!
Weiter oben habe ich geschrieben:
Ich sehe jetzt, daß ich dabei diese doppelte Verneinung ("hindern" - "nicht") übersehen habe.stilz hat geschrieben:... so wie in diesen etwas "eine kleine Zeit nur" verweilt, weil es dann verwest ist, verschwunden, aufgelöst, "geschluckt" von den "unbekannten Munden, die niemals reden" --- ebenso könnte es sein (und was sollte uns hindern, es zu glauben?), daß "Drang und Haß und dies Verwirrende" (also wohl all unsere Triebe und Abneigungen, mitsamt allen Ängsten und Unsicherheiten, die wir in uns fühlen) nur eine kleine Zeit in uns verweilen, bis sie sich schließlich auflösen...
Nun lese ich das Gedicht tatsächlich noch anders als vorher.
Was ich bisher als "rhetorische Wendung" ansah (und daher, wie man sieht, ein wenig schlampig las ), das scheint mir nun das zentrale Thema des Gedichts zu sein.
Die ersten drei Strophen (abgesehen von der Parenthese im ersten Terzett) bestehen aus einem einzigen Satz.lilaloufan hat geschrieben:Rilke will doch nicht negieren, dass in unserer Schicksalsordnung nur für eine von Λάχεσις recht kurz bemessene Zeit dieses Gewoge aus Lüsten und Widerneigungen «in uns verweilt», das wir Verwirrten unsere „Seele“ nennen?
Dieser Satz beginnt wie eine Frage: «Was aber hindert uns zu glauben, daß ...»
Er endet aber nicht mit einem Fragezeichen (das steht erst in der Parenthese), sondern mit einem Punkt.
Dieser Punkt scheint mir darauf hinzudeuten, daß Rilke empfand: es gibt also etwas, das uns daran hindert, zu glauben, daß «Drang und Haß/und dies Verwirrende» länger als «eine kleine Zeit nur» in uns verweilen...
Wenn ich die ersten drei Strophen so lese, empfinde ich, daß auch dieses bisher so rätselhafte «Da», das das letzte Terzett einleitet, etwas ganz Bestimmtes zu bedeuten hat - auch wenn das für mich im Augenblick noch etwas schemenhaft bleibt.
- Da wurde von den alten Aquädukten
ewiges Wasser in sie eingelenkt-:
das spiegelt jetzt und geht und glänzt in ihnen.
Es ist also offenbar zur römischen Zeit etwas geschehen, das sowohl mit etwas "Ewigem" zu tun hat als auch mit demjenigen, das uns daran hindert, zu glauben, dieses „Gewoge aus Lüsten und Widerneigungen“, wie Du, lilaloufan, es nennst, könnte dieses "Ewige" sein...helle hat geschrieben:Die letzte Strophe ist besonders hermetisch. In »sie« (V. 13) – offenbar »die Munde« (das ist die einzig zulässige grammatische Beziehung), in V. 9 noch »unbekannt«, wird – fast spontan: »da wurde« –Wasser eingeleitet. Ein merkwürdiges »da«. Von wem, erfährt man nicht, nur zu welcher Zeit, das sagen die Äquadukte: der römischen. Es ist auch nicht irgendein Rinnsal oder Tümpel, sondern »ewiges Wasser« - was immer das meint. Ewiges Wasser, das sich in unbekannten Munden spiegelt, die ein langsam sich Auflösendes aus Leib, Kleidung und Grabbeigaben verzehrt, verschluckt haben, das mit unserer inneren Zersetzung verglichen wird; also ein ziemlich kühner Bogen.
Ich denke an Homer. An Mnemosyne, die Mutter aller Musen, die er sowohl in der "Ilias" als auch in der "Odyssee" bereits im allerersten Satz anruft, sie solle singen, sie solle den Mann benennen...
Ich denke an den Übergang von mündlicher Überlieferung zu schriftlicher Fixierung (und damit "Individualisierung"), der sich zur römischen Zeit bereits vollzogen hatte.
Und ich denke auch noch an Deine, lilaloufan, Frage vor kurzem:
lilaloufan hat geschrieben:Könnte es sein, dass „ewiges Wasser“ dort labt, wo man aus dem Fluss Mνημοσύνη trinkt, der in Eden entspringt?
Vielen Dank für dieses "Rätseln"!
Herzlichen Gruß,
stilz