"Der Leser" und "Die Irren" - Interpretationsansätze

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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rfederer
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"Der Leser" und "Die Irren" - Interpretationsansätze

Beitrag von rfederer »

Ich beschäftige mich seit ein paar Tagen intensiv mit Rilke Gedichten und habe die meisten eigentlich gut verstehen können, wenn teilweise auch erst nach längerem Überlegen. Doch bei den beiden Gedichten "Der Leser" und "Die Irren" stehe ich total auf dem Schlauch und komme nicht weiter. Es wäre echt nett von euch, mich bei der Interpretation zu unterstützen. Herzlichen Dank.

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Der Leser

Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht
wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten,
das nur das schnelle Wenden voller Seiten
manchmal gewaltsam unterbricht?

Selbst seine Mutter wäre nicht gewiß,
ob er es ist, der da mit seinem Schatten
Getränktes liest. Und wir, die Stunden hatten,
was wissen wir, wieviel ihm hinschwand, bis

er mühsam aufsah: alles auf sich hebend,
was unten in dem Buche sich verhielt,
mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend
anstießen an die fertig-volle Welt:
wie stille Kinder, die allein gespielt,
auf einmal das Vorhandene erfahren;
doch seine Züge, die geordnet waren,
blieben für immer umgestellt.

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Die Irren

Und sie schweigen, weil die Scheidewände
weggenommen sind aus ihrem Sinn,
und die Stunden, da man sie verstände,
heben an und gehen hin.

Nächtens oft, wenn sie ans Fenster treten:
plötzlich ist es alles gut.
Ihre Hände liegen im Konkreten,
und das Herz ist hoch und könnte beten,
und die Augen schauen ausgeruht

auf den unverhofften, oftentstellten
Garten im beruhigten Geviert,
der im Widerschein der fremden Welten
weiterwächst und niemals sich verliert.
stilz
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Re: "Der Leser" und "Die Irren" - Interpretationsansätze

Beitrag von stilz »

Liebe(r) rfederer,

es ist nun schon eine Weile her, daß Du nach diesen beiden Gedichten gefragt hast, und bisher hat sich noch niemand Deiner Frage angenommen.

Vielleicht liegt das ja daran, daß Du nicht sagst, inwiefern Dir diese beiden Gedichte unklar sind?

Im ersten Gedicht wird der Leser geschildert, also jemand, der liest, dessen Bewußtsein sich nicht mit seinem eigenen "Sein" in seiner unmittelbaren Umwelt beschäftigt, sondern mit einem "zweiten Sein", eben mit dem, was Inhalt des Buches ist...
Wenn man jemals selbst in ein Buch "versunken" ist, dann kennt man das gut, dieses "Unterbrechen", wenn man so etwas Lapidares tun muß wie eine Seite umzublättern, und auch den Übergang von einer Welt in eine andere, wenn man schließlich "mühsam aufsieht" und sich noch nicht ganz trennen kann von dem, was man gelesen hat... aber in der "vollen, Welt", in die man nun blickt, scheint kein Raum zu sein für das, was man soeben erlebt hat - denn sie ist ja längst "fertig"...

Was ist Dir an diesem Gedicht nicht verständlich?

Und auch beim zweiten Gedicht wäre es hilfreich, wenn Du sagst, was daran Du nicht begreifen kannst.
Es ist von "Irren" die Rede, von Menschen, die Schwierigkeiten damit haben, die Welt so zu sehen, wie "normale Menschen" sie sehen - denn die "Scheidewände" sind "weggenommen aus ihrem Sinn": es ist ihnen daher nicht gegeben, all das zu unterscheiden, was andere im hellen Tageslicht so selbstverständlich beurteilen und feinsäuberlich nach verschiedenen "Kategorien" einteilen und bewerten können...
Wenn ich versuche, mich in einen solchen Menschen hineinzuversetzen, kann ich ganz gut begreifen, wovon Rilke spricht. Du nicht?

Herzlichen Gruß,

Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
arme
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Re: "Der Leser" und "Die Irren" - Interpretationsansätze

Beitrag von arme »

Guten Tag! Es war eine andere Diskussion, die wir neulich über dieses Gedicht hatten, aber jetzt bin ich an diese ältere Diskussion angestossen. Ich habe auch versucht dieses Gedicht zu verstehen - und auch wieder zu überstzen. Ein paar Fragen habe ich noch. Wie würdet ihr "Getränktes" erklären. Und: "die Stunden hatten". Und "wieviel ihm hinschwand". Ich habe meine Ahnungen, aber es wäre schön eure wunderbare Erklärungen wieder zu lesen. Mit herzlihen Grüssen arme
stilz
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Re: "Der Leser" und "Die Irren" - Interpretationsansätze

Beitrag von stilz »

Liebe arme,
arme hat geschrieben:Wie würdet ihr "Getränktes" erklären.
Das ist eine sehr interessante Frage.
„mit etwas getränkt“ bedeutet normalerweise „ganz und gar von etwas Flüssigem durchdrungen“, etwa ein Pinsel mit Farbe, ein Verband mit Blut oder ein Waschlappen mit Wasser...

Selbst seine Mutter wäre nicht gewiß,
ob er es ist, der da mit seinem Schatten
Getränktes liest.

(ich habe die Hervorhebung bei „er“ ergänzt, wie sie in meinem Rilke-Gedichtband steht)

Nun könnte man das einerseits „äußerlich“ verstehen und daran denken, daß der Leser im Schein einer Lampe liest, die hinter ihm steht, sodaß sein eigener Schatten auf die Seite fällt, die er gerade liest. Das Papier wäre dann gewissermaßen „mit seinem Schatten getränkt“...

Aber man könnte es vielleicht auch noch anders verstehen: wenn verschiedene Leser dasselbe Buch lesen, so werden sie es unterschiedlich erleben --- jeder „getränkt“ mit seiner eigenen bisherigen Vorgeschichte, mit der Essenz seiner bisherigen Erlebnisse, die ihn zu dem geformt haben, der nun lesend die Buchstaben in Sinn verwandelt...
Vielleicht bedeutet „Schatten“ hier auch so etwas wie diese Essenz der bisherigen Erlebnisse, die in jedem neu hinzukommenden Licht einen Schatten, und damit eine eigene Farbe, bilden?

arme hat geschrieben: Und: "die Stunden hatten". Und "wieviel ihm hinschwand".
Ich lese das zusammen:
Und wir, die Stunden hatten,
was wissen wir, wieviel ihm hinschwand, bis
er mühsam aufsah


Während wir, die wir nicht lasen, nur ein paar Stunden erlebt haben, hat der Leser vielleicht lesend einen Tag, ein Jahr, ein Menschenalter erlebt...


Ich denke auch an das frühere Gedicht „Der Lesende“ aus dem Buch der Bilder: http://www.rilke.de/gedichte/der_lesende.htm

Herzlich,
stilz
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arme
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Re: "Der Leser" und "Die Irren" - Interpretationsansätze

Beitrag von arme »

Danke stilz für die Antwort! Ich habe noch eine Möglichkeit gefunden. Im Duden lese ich, dass Getränktes auch "mit Latex getränktes, reißfestes Papier" bedeutet. Aber wenn man schon so viel anderes darein lesen kann, ist es ja wieder genial und beim Übersetzen leider unmöglich. Ich glaube auch, dass eine Lampe und ein Schatten dabei sind. Ich habe es "mit seinem Schatten als Beigleiter" übersetzt. Die Stunden habe ich nicht richtig mitbekommen. Es kan sicherlich so sein, dass Rilke die verschiene Erfahrung der Zeit bei dem Sohn und den anderen damit meint. Ein schönes Gedicht! arme
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