Sunamitismus

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

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weißer Elephant
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Sunamitismus

Beitrag von weißer Elephant »

Bin gerade dem Gedicht "Abisag" begegnet.

Abisag

I

Sie lag. Und ihre Kinderarme waren
von Dienern um den Welkenden gebunden,
auf dem sie lag die süßen langen Stunden,
ein wenig bang vor seinen vielen Jahren.

Und manchmal wandte sie in seinem Barte
ihr Angesicht, wenn eine Eule schrie;
und alles, was die Nacht war, kam und scharte
mit Bangen und Verlangen sich um sie.

Die Sterne zitterten wie ihresgleichen,
ein Duft ging suchend durch das Schlafgemach,
der Vorhang rührte sich und gab ein Zeichen,
und leise ging ihr Blick dem Zeichen nach -.

Aber sie hielt sich an dem dunkeln Alten
und, von der Nacht der Nachte nicht erreicht,
lag sie auf seinem fürstlichen Erkalten
jungfräulich und wie eine Seele leicht.


II

Der König saß und sann den leeren Tag
getaner Taten, ungefühlter Lüste
und seiner Lieblingshündin, der er pflag -.
Aber am Abend wölbte Abisag
sich über ihm. Sein wirres Leben lag
verlassen wie verrufne Meeresküste
unter dem Sternbild ihrer stillen Brüste.

Und manchmal, als ein Kundiger der Frauen,
erkannte er durch seine Augenbrauen
den unbewegten, küsselosen Mund;
und sah ihres Gefühles grüne Rute
neigte sich nicht herab zu seinem Grund.
Ihn fröstelte. Er horchte wie ein Hund
und suchte sich in seinem letzten Blute
.

Diese Zeilen sind in Meudon entstanden,1905/06.
Über den geschichtl Hintergrund, den "Sunamitismus", habe ich mich informiert.
Gerne wüßte ich,was Rilke zu diesem Gedicht veranlaßt haben mag.Weiß jemand unter den Kundigen dieses Forums etwas dazu?
sedna
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Re: Sunamitismus

Beitrag von sedna »

weißer Elephant,

das Jungfrauen- bzw. Mädchen-Motiv taucht eigentlich recht häufig in Rilkes Werk auf.
Genaueres zu seinen Beweggründen für dieses Gedicht kann ich Dir leider auch nicht sagen — ein paar Gedanken nur: beispielsweise, daß Rilke ein ausdauernder Bibelleser war und er Stoffen des Alten Testaments besonders viel Aufmerksamkeit widmete. Hier eine passende Bibelstelle zum Gedicht, 1. Könige 1-4:

1. Und da der König David alt war und wohl betagt, konnte er nicht warm werden, ob man ihn gleich mit Kleidern bedeckte.
2. Da sprachen seine Knechte zu ihm: Laßt sie meinem Herrn, dem König, eine Dirne, eine Jungfrau, suchen, die vor dem König stehe und sein pflege und schlafe in seinen Armen und wärme meinen Herrn, den König.
3. Und sie suchten eine schöne Dirne im ganzen Gebiet Israels und fanden Abisag von Sunem und brachten sie dem König.
4. Und sie war eine sehr schöne Dirne und pflegte des Königs und diente ihm. Aber der König erkannte sie nicht.


Beim Lesen des Gedichts wird es aber irgendwie nicht so warm, wie es laut Bibel eigentlich werden sollte ... oder irre ich mich?
Wie wirkt es denn auf Dich?
Mich jedenfalls erinnerte es an eine Bemerkung aus J.P. Jacobsens Niels Lyhne, wo Reinheit, Unberührtes sich im Weißsein, der Blässe einer Jungfrau ausgedrückt findet, die sich als "feine, jungfräuliche Kühle" niederschlägt. Und so fragt man sich dann, ob vielleicht auch Rilke (der das Buch vermutlich auswendig kannte) ein ähnlich merkwürdiges Bild vorgeschwebt haben könnte — also die 'physikalische Besonderheit', Kaltes durch Kaltes erwärmen zu wollen ... :shock:
Um so seltsamer, zumal die jungfräulichen Mädchen bei Rilke - wenn auch hier viel später - durchaus mit Wärme verbunden werden:

"Mädchen, ihr warmen, Mädchen, ihr stummen,"

heißt es im XV. Sonett an Orpheus im ersten Teil, im VII. Sonett des zweiten Teils dann über gepflückte Blumen:

"wenn ihr euch wiederfandet im Krug,
langsam erkühlend und Warmes der Mädchen, wie Beichten,

von euch gebend, wie trübe ermüdende Sünden
"

So weit, so dürftig ...

sedna
die ein ausbrechendes Lied in die Unsichtbarkeit wirft!
helle
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Re: Sunamitismus

Beitrag von helle »

Ich bin im Kontext des Wedekind-Gedichts Im Heiligen Land, das einigen Spott auf Wilhelm II ausgießt und dem Autor mehrere Monate Festungshaft eingetragen hat, auf die Gestalt der Abisag und dieses Rilke-Gedicht gestoßen.

Einmal mehr habe ich mich gefragt, ähnlich ratlos, wie »weißer elephant« und »sedna«, was das Gedicht will, was es soll und was es letzrlich tut. Der Bezug zum Buch der Könige ist ja offensichtlich, ohne dies wäre es nicht, aber Rilke schmückt die wenigen Zeilen doch entschieden aus, wobei die biblische Fabel weitgehend unangetastet bleibt: Junges Mädchen, Jungfrau natürlich, wird als Altenpflegerin des Königs gesucht und versüßt ihm die letzten Tage ohne sich ihm hinzugeben (»erkannt« zu werden). Was also will Rilke (falls er etwas >will<)? Abgesehen von dem, was sedna bemerkt, seinem Interesse für biblische Motive einerseits, für junge Mädchen andererseits, versieht er die Szenerie mit etwas geheimnisvollen Zügen, ein bißchen wie ein Maler, wenn auch mit anderen, konsekutiven Mitteln. Die »Kinderarme« der Abisag werden von Dienern gebunden: ein Zwang, den die biblische Vorlage nicht liefert. Dennoch sind die »Stunden« »süß«, wodurch auch immer, Liebe zum König, heilige Pflicht, Lust an der Unterwerfung, Träumerei in die Zukunft usw.

Es bleibt mir verschlossen wie so manches in diesen Versen. Die Eule, Hund und Hündin, das Zeichen des animistisch veranlagten Vorhangs oder die »grüne Rute« des Gefühls (Grün, weil unreif, noch im Werden?).

Alle Begriffsstutzigkeit mal eingerechnet – ich glaube, auch aus der Erfahrung mit anderen Gedichten, hier soll nicht alles aufgelöst und übersetzt werden können in unsere Verkehrs- und Alltagssprache, mit der wir uns mühsam verständigen, sondern der schöne René legt uns ein etwas rätselhaftes und komplexes Sprachspiel hin, an dem wir lange zu knacken haben. Allerdings lasse ich mich auch gern eines Besseren belehren.

Grüßchen h.
stilz
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Re: Sunamitismus

Beitrag von stilz »

Lieber helle,
mein Versuch einer Antwort:
helle hat geschrieben: 14. Mär 2018, 16:28 Was also will Rilke (falls er etwas >will<)?
Ich glaube: was er in allen Neuen Gedichten „will“: er läßt sich von in der Außenwelt Erfahrenem dazu anregen, sich in das jeweilige „Ding“ so einzufühlen, daß er es gewissermaßen „von innen“ schildern kann.
Dieses „Ding“ kann ein Ding der Außenwelt sein (ein Karussell, ein Panther, ein römischen Brunnen...), etwas, das auf einem Bild dargestellt ist (ein Selbstporträt, eine spanische Tänzerin...), ein bildhauerisches Werk (ein archaischer Torso...), aber auch ein Gefühl (Abschied, Todes-Erfahrung...) - - - und natürlich auch eine Gestalt aus einem Buch.
Und Rilke fand viele seiner Motive in der Bibel, vor allem im Alten Testament (nicht nur Rilke, übrigens; man denke an die AT-Opern Georg Friedrich Händels, an Felix Mendelssohn-Bartholdy, Richard Strauss, Arnold Schönberg, Leonard Bernstein, Arthur Honegger...).
helle hat geschrieben:aber Rilke schmückt die wenigen Zeilen doch entschieden aus
Ich sehe es nicht als ein Ausschmücken.
Rilke referiert nicht, was er beim Lesen wahrnimmt, sozusagen als „Beobachter von außen“, sondern er schlüpft gewissermaßen in die Haut der beiden Gestalten und schildert, was „von dort aus“ zu erleben wäre:

Was empfindet ein junges Mädchen, was bedeutet es für sie, Nacht für Nacht zwar zu erleben, wie alles, was die Nacht war, sich mit Bangen und Verlangen um sie scharte, sich aber dennoch niemals erreichen zu lassen von der Nacht der Nächte, auch dem suchenden Duft und den Sternen, die zitterten wie sie, nicht zu folgen, sondern stattdessen wie eine Seele leicht auf dem fürstlichen Erkalten des alten Königs zu liegen... ?

Du fragst, wodurch diese Stunden dennoch süß sind --- ich denke dabei weniger an Liebe zum König, heilige Pflicht oder Lust an der Unterwerfung, sondern an Rilkes Beziehung zu Nächten, an Sätze wie Ich glaube an Nächte. (Stunden-Buch), oder das noch frühere: Die Nacht holt heimlich durch des Vorhangs Falten aus deinem Haar vergeßnen Sonnenschein., oder an den, der der Geliebten diese Nacht bereitet und sie verwöhnt mit den gefühlten Himmeln (Spanische Trilogie) ... um einige wenige Beispiele zu nennen.
Ich habe den Eindruck, für Rilke ist alles, was die Nacht ist, an und für sich süß – selbst dann, wenn man keinen „Gebrauch“ davon macht.

Und die andere Seite:
Was empfindet der alte König, wenn nach einem langen, leeren Tag, an dem alle Taten getan sind, die Lüste ungefühlt bleiben, einem Tag, dessen einzige Gegenwart die Lieblingshündin, der er pflag ist... wenn nach einem solchen Tag Abisag sich über ihm wölbt?

Das Gedicht entstand ungefähr zur selben Zeit wie David singt vor Saul. Damals sprach David dem alten König Saul von blühenden Mädchen, die du noch erkannt, / die jetzt Frauen sind und mich verführen; - und dann heißt es:
  • Daß mein Klang dir alles wiederbrächte.
    Aber trunken taumelt mein Getön:
    Deine Nächte, König, deine Nächte -,
    und wie waren, die dein Schaffen schwächte,
    o wie waren alle Leiber schön.

    Dein Erinnern glaub ich zu begleiten,
    weil ich ahne. Doch auf welchen Saiten
    greif ich dir ihr dunkles Lustgestöhn? -

Sollte der alte König David sich nicht daran erinnern, nicht den Gegensatz empfinden zwischen den blühenden Mädchen, die er damals erkannte, und dem blühenden Mädchen, das jetzt auf ihm liegt, ohne daß er es „erkennt“, dessen Mund küsselos bleibt, und dessen Leib zwar auf ihm liegt, dessen noch grünes Gefühl (sie ist wohl wirklich noch Jungfrau) sich aber nicht herabneigt zu seinem Grund? Nun ist er selbst der alte König...
helle hat geschrieben:die »grüne Rute« des Gefühls (Grün, weil unreif, noch im Werden?)
Ja, so verstehe auch ich es. Und Rute bedeutet für mich in diesem Zusammenhang etwas, das herabreichen könnte, sich bis zu seinem Grund strecken könnte - ein Gefühl mit „Richtung“ gewissermaßen.
Aber Abisags Gefühl schlägt diese Richtung nicht ein - und der König wird wohl nicht finden, was er sucht...
  • Ihn fröstelte. Er horchte wie ein Hund
    und suchte sich in seinem letzten Blute.
Soweit mein Versuch.

Herzlich,
stilz
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helle
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Re: Sunamitismus

Beitrag von helle »

Liebe stilz, Dein ›Versuch‹ schließt mir Vieles auf und in vielem stimme ich ihm zu. Nun wäre es hier langweilig, wenn wir uns nur zustimmen wollten.

Rilke will in das Herz der Dinge sehen, durch Anverwandlung, Einfühlung, mimetische Fähigkeiten usw., »sich in das jeweilige ›Ding‹ so einzufühlen, daß er es gewissermaßen ›von innen‹ schildern kann«, so sagst Du es. So ähnlich wie Franz Marc das Tier aus dessen eigenem ›Bildkreis‹ heraus sehen wollte. Ok, claro, gebongt, aber es kann sich nur um eine idealtypische Vorstellung handeln, ein Rest anthropomorpher und subjektiver Zutat bleibt ja gegeben, ob es die Rehe im Wald sind oder bei Rilke Gegenstände, Personen, Tiere und von mir aus »Gefühle«, was Du so als Dinge aufzählst (altes Problem, was man unterm »Ding«-Gedicht versteht, darauf will ich nicht eingehen).

Es tritt aber die Eigenbewegung der Sprache (der Malwerkzeuge usw.) hinzu, die zu Formen und Zusammenhängen führt, die eben nur hier, in der Sprache, auf der Leinwand, in der Skulptur bestehen und nicht einfach nur Entsprechungen, Korrelate oder gar Kongruenzen der äußeren Welt sind. Schon die Gedichtform, Strophe, Metrum, Reim pp., ist eine Abtönung des Themas, sonst könnte man ja botanische oder zoologische Werke, historische Abhandlungen, Gebrauchsanweisungen und was immer schreiben. Die biblische Erzählung von David ist doch ein Mythos (ein Erzähltes), dessen realen Hintergrund wir nur imaginieren können. Und auch Rilke kann sich nur perspektivisch in David verwandeln, und dabei spreche ich nicht von Davids Mut, von Goliath und der Steinschleuder. Dies, um meine Reserve gegen das organische Modell Thema – Einfühlung – Darstellung auszudrücken.

Und dann - man kann sehr wohl Parallelstellen heranziehen und vergleichen, wo ein Thema schon mal in ähnlicher Form behandelt wurde. Aber das heißt nicht, daß die unterschiedlichen Stellen auch das gleiche sagen und bedeuten. Das unterläge eben erst der Prüfung der Einzelstelle und dann dem Vergleich – nicht bekräftigt umgekehrt schon das Anführen einer motivverwandten Stelle die Deutung der ersten (»Sollte der alte König David sich nicht daran erinnern«, schreibst Du – und das erscheint mir eher als Insinuation denn als Beleg). Das würde ich auch gegen die Aussage: »Ich habe den Eindruck, für Rilke ist alles, was die Nacht ist, an und für sich süß« einwenden. Zunächst scheint mir keine Rolle zu spielen, was Rilke im allgemeinen über die Nacht sagt und denkt. Ein Gedicht geht erst mal als Einzelgänger durch die Welt, und man würde vielen in ihrer individuellen Gestalt einen Tort tun, wenn man ihre konkreten Passagen und Zusammenhänge aus den allgemeinen Auffassungen des Autors begründen wollte. Ebenso wenig wie man diesen allgemeinen Horizont ganz außer Acht lassen kann, das ist mir schon klar. Soweit für jetzt. Trotz dieser mühsam formulierten Einschränkungen hat mir Deine Antwort im Verständnis ein gutes Stück weitergeholfen.

Dank dafür und u. Gruß,
h.
stilz
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Re: Sunamitismus

Beitrag von stilz »

Lieber helle,

danke für Deine Antwort --- :D ja, klar wäre es langweilig, wenn wir einander in allem uneingeschränkt zustimmen wollten. Da käme ja gar kein Gespäch zustande!

Ich möchte meinen Versuch präzisieren:

Wenn ich sage, Rilke fühlt sich ein etc --- so meine ich nicht, daß er nun zum „Hellseher“ würde und „sehen“ könnte, was die wirkliche Abisag oder der wirkliche David tatsächlich empfunden haben.
Nein - er sind natürlich seine, Rilkes, Figuren, die er, angeregt von den Erzählungen des Alten Testaments, erschaffen hat.
Ich würde es daher weniger Anthropomorphismus, sondern eher Rilkemorphismus nennen... seinen Versuch, alles in eine Hand voll Innres zu verwandeln, wie es in der Rosenschale, oder ganz im unsichtbarn Herzen verwandeln/in - o unendlich - in uns! Wer wir am Ende auch seien, wie es in der Neunten Elegie heißt.
helle hat geschrieben: 20. Mär 2018, 16:24 Es tritt aber die Eigenbewegung der Sprache (der Malwerkzeuge usw.) hinzu, die zu Formen und Zusammenhängen führt, die eben nur hier, in der Sprache, auf der Leinwand, in der Skulptur bestehen und nicht einfach nur Entsprechungen, Korrelate oder gar Kongruenzen der äußeren Welt sind. Schon die Gedichtform, Strophe, Metrum, Reim pp., ist eine Abtönung des Themas, sonst könnte man ja botanische oder zoologische Werke, historische Abhandlungen, Gebrauchsanweisungen und was immer schreiben.
Ja natürlich. Auch die Form des Gedichtes gehört zu Rilkes Inspiration.

Ich denke an die Musikwissenschaftler, die in den Werken J.S.Bachs unendlich viel hineingeheimnist finden... ich bin überzeugt: wenn Bach das alles hätte ausklügeln wollen, dann hätte er nicht nur sehr viel länger gebraucht und also sehr viel weniger komponieren können, sondern seine Kompositionen wären wohl auch sehr viel „trockener“ ausgefallen. Ich glaube daher nicht an ein bewußtes akribisches Konstruieren. Die Inspiration geht andere Wege.
Aber: im Nachhinein kann man das alles dann halt auffinden...
(Ich denke auch an Richard Wagner, der seinen Lohengrin erst 1860 aufgeführt sah, ca 20 Jahre nachdem er in komponiert hatte. Erschüttert schrieb er danach an einen Freund: »Ich kann mir nicht erklären, woher ich das damals alles hatte.«)

Mein Eindruck ist: auch Rilke hat sich von seiner Inspiration (und vom „Sprachgeist“) führen lassen.
helle hat geschrieben: 20. Mär 2018, 16:24 Und dann - man kann sehr wohl Parallelstellen heranziehen und vergleichen, wo ein Thema schon mal in ähnlicher Form behandelt wurde. Aber das heißt nicht, daß die unterschiedlichen Stellen auch das gleiche sagen und bedeuten.
Nein - natürlich nicht.
Auch wenn ich die Rosenschale oder die Neunte Elegie herangezogen habe (oder J.S.Bach oder Richard Wagner), so meinte ich es nicht als „Beweis“ einer „These“.
Aber es können doch Indizien sein, Wegweiser, die man zum Anlaß nimmt, (auch, nicht nur!) in eine bestimmte Richtung zu blicken?

Natürlich sind es für mich weniger Indizien dafür, wie es „wirklich“ war, ob es ein Mythos ist, ob die Bibel geschichtliche Wahrheiten berichtet, oder was Abisag oder König David tatsächlich gedacht und empfunden haben.
Ich sehe es als Indizien für die Konturen von Rilkes König-David-Figur --- und wenn es mir gelingt, mir eine Stelle in einem Gedicht durch das Heranziehen eines anderen Gedichtes begreiflicher zu machen, dann formt sich in mir eine Idee, die solange Bestand hat, bis sie durch eine überzeugendere abgelöst wird...
helle hat geschrieben: 20. Mär 2018, 16:24 Das würde ich auch gegen die Aussage: »Ich habe den Eindruck, für Rilke ist alles, was die Nacht ist, an und für sich süß« einwenden. Zunächst scheint mir keine Rolle zu spielen, was Rilke im allgemeinen über die Nacht sagt und denkt. Ein Gedicht geht erst mal als Einzelgänger durch die Welt, und man würde vielen in ihrer individuellen Gestalt einen Tort tun, wenn man ihre konkreten Passagen und Zusammenhänge aus den allgemeinen Auffassungen des Autors begründen wollte.
D'accord. :) Und damit es nicht langweilig wird:
Aber so habe ich es auch nicht gemeint.
Auch hier meinte ich nicht Beweise, sondern Indizien.
Und: hier, in diesem Gedicht, scheinen mir Nächte doch prinzipiell süß zu sein. Denn Rilke gibt ja keine „Begründung“ dafür, er scheint das vorauszusetzen. Nicht wahr? Denn was er schildert, klingt nicht gerade süß... es klingt für mich eher so, als würde Abisag diese süßen langen Stunden vergeuden...

Soviel für heut.

Herzlich,
stilz
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helle
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Re: Sunamitismus

Beitrag von helle »

Liebe stilz,

den meisten Punkten, die Du anführst, kann ich nur zustimmen. »Rilkemorphismus« hingegen finde ich etwas übertrieben, es ist ja ein übliches dichterisches Verfahren, das er anwendet, gewiß ausgeprägter als andere Autoren. Was ich animistisch nannte und was man auch anders nennen kann, den Dingen menschliche Eigenschaften zuzusprechen, hat eine Affinität zu kindlichen Vorstellungsweisen, die ich bei Rilke manchmal strapaziös und manchmal ingeniös finde. Also Deinen Rilkemorphismus würde ich bescheiden unter allgemeinem Anthropmorphismus verbuchen.

Unterschreiben würde ich sofort: »Mein Eindruck ist: auch Rilke hat sich von seiner Inspiration (und vom „Sprachgeist“) führen lassen«, mit Betonung auf »führen«. Unbedingt.

Du sagst: »[...] wenn es mir gelingt, mir eine Stelle in einem Gedicht durch das Heranziehen eines anderen Gedichtes begreiflicher zu machen [...]« – das ist schon klar, aber das begründet weniger die schlüssige Interpretation als sie vorauszusetzen. Nun ist das hier zum Glück kein Oberseminar und es reicht uns natürlich, uns auf Evidenzen zu verlassen.

Und schließlich: von »Beweisen« würde ich auch nicht, auch ich nicht sprechen, das ist Sache der Mathematik oder Kriminalistik.

Trotz Deiner erhellenden Hinweise weiß ich noch immer nicht recht, was er mit dem Abisag-Gedicht eigentlich will (oder eher was ich damit anfangen soll, wie man so sagt), vom schauerlichen Karl dem XII. zu schweigen, bei dem es mich aber auch herzlich wenig interessiert.

Viele Grüße, helle
stilz
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Re: Sunamitismus

Beitrag von stilz »

Lieber helle,
helle hat geschrieben:Trotz Deiner erhellenden Hinweise weiß ich noch immer nicht recht, was er mit dem Abisag-Gedicht eigentlich will
In einer vielzitierten Stelle aus diesem Brief an Franz Xaver Kappus schreibt Rilke den Satz:
  • Und es handelt sich darum, alles zu leben.
An dieser Stelle bezieht Rilke sich freilich damit auf alle Fragen, die man haben könnte.

Aber wenn jemand – verzeih, ich ziehe schon wieder andere Gedichte zu Rate – an der Aufgabe arbeitet, die ganze Erde unsichtbar in sich erstehn zu lassen, wie es in der Neunten Elegie heißt --- muß er sich dann nicht auch um diejenigen hier auf Erden erlebbaren Facetten (so „absonderlich“ sie auch seien) kümmern, die in seinem persönlichen Schicksal, in seinem persönlichen „irdischen Kostüm“, nicht enthalten sind?

fragt, mit herzlichem Gruß,
stilz
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helle
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Re: Sunamitismus

Beitrag von helle »

Liebe stilz,

danke nochmals, das stimmt schon alles. Lassen wir es dabei. Mir bleibt zwar manches nach wie vor verschlossen, vor allem das, was man mit einer Anleihe bei W. Benjamin die ›Art des Meinens‹ nennen könnte, aber es macht nichts, ein gewisses Unverständnis gehört zur Lyrik irgendwie dazu, manchmal wenigstens
für helle
stilz
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Re: Sunamitismus

Beitrag von stilz »

Auch unser spezielles Forumsmitglied Georg Trakl (jun) hat zu diesem Thema etwas zu sagen - ich habe es hierher verschoben.
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