Ich bin derselbe noch, der kniete...

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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borisg
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Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von borisg »

Guten Tag!

Ich habe zwei kleine Fragen zum Gedicht "Ich bin derselbe noch, der kniete", aus dem zweiten Teil des Stunden-Buches, und zwar:

1)... und der Verschwiegene ist der,
zu dem sich alle Dinge neigen,
von seiner Stärke Strahlen schwer.

Die letzte Zeile ist mir unklar - gibt's da ein Verb?

2) Du weißt vielleicht nicht, wie die Nächte
für Menschen, die nicht schlafen, sind:
da sind sie alle Ungerechte,
der Greis, die Jungfrau und das Kind.

Ich verstehe das "Ungerechte" hier nicht ganz. Bedeutet es "unlauter"/"ungerechtfertigt" (was ist dann damit gemeint)? Oder was anderes? Gibt's einen Zusammenhang mit

Ich habe Tote, und ich ließ sie hin
und war erstaunt, sie so getrost zu sehn,
so rasch zuhaus im Totsein, so gerecht,
so anders als ihr Ruf. ?

(Die Englische Übersetzung lautet hier: I have my dead and I have let them go and was amazed to see them so contented, so at home in being dead, so cheerful, so unlike their reputation - also etwas ganz anderes. Ungerecht sollte dann bedeuten, dass sie traurig sind / dass es ihnen schlecht geht, und nicht, dass sie schlechte Leute sind.)

Vielen Dank im Voraus, und ich bitte um Entschuldigung für meine Fehler.
Boris.
stilz
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von stilz »

Lieber Boris,
  • ... und der Verschwiegene ist der,
    zu dem sich alle Dinge neigen,
    von seiner Stärke Strahlen schwer.
"schwer" bezieht sich auf die "Dinge". Sie sind schwer von dem, was seine Stärke ausstrahlt.
Ausführlicher könnte dieser Satz lauten:
"... zu dem sich alle Dinge neigen, die schwer sind (oder auch: weil sie schwer sind) von den Strahlen seiner Stärke."


Und zu Deiner zweiten Frage:
  • Du weißt vielleicht nicht, wie die Nächte
    für Menschen, die nicht schlafen, sind:
    da sind sie alle Ungerechte,
    der Greis, die Jungfrau und das Kind.
Das würde ich zunächst so verstehen:
In einer solchen schlaflosen Nacht (denn von Nächten, die in frohem Schaffen durchwacht sind, spricht Rilke hier ja nicht) wälzt man nicht nur seinen Körper von einer Seite auf die andere, sondern man wälzt auch fruchtlose Gedanken... man grübelt sozusagen im Kreis herum, versucht vielleicht, "Schuldige" zu finden für alles, was einem am Tage (oder auch im Leben) nicht gelungen sein mag, oder man sieht die eigenen Fehler riesengroß und kann vor sich selber nicht bestehen; man malt sich aus, was der nächste Tag bringen wird, und auch das tut man düsteren Farben... auf diese Weise ist man auf mancherlei Weise "ungerecht": schon allein deshalb, weil man seine Zeit verschwendet mit "Destruktivem", statt konstruktiv zu schlafen, oder wenigstens konstruktiv zu denken; ungerecht zu den anderen, denen man in solchen Gedankenkreiseln "Schuld" für Eigenes anlasten will; ungerecht zur Zukunft, die man auch schon dabei ist, durch düstere Gedanken zu beschädigen; und obendrein, jedenfalls wenn man ehrlich ist, empfindet man sich auch noch selber als "ungerecht"... und folgerichtig schreibt Rilke dann auch: Du mußt sie weinen hören; denn sie weinen.


Nun fragst Du aber auch noch, ob das "ungerecht" an dieser Stelle zusammenhängt mit dem "gerecht" hier:
  • Ich habe Tote, und ich ließ sie hin
    und war erstaunt, sie so getrost zu sehn,
    so rasch zuhaus im Totsein, so gerecht,
    so anders als ihr Ruf.
Und das ist eine sehr interessante Frage.
Sie bringt mich darauf, "gerecht" im Sinne von "richtig" zu verstehen: so, wie etwas sein sollte.
Die Toten, von denen Rilke zu Beginn des Requiems für eine Freundin spricht, "passen" in ihre Umgebung, sie "benehmen" sich sozusagen so, wie es ihrem "Totsein" entspricht, oder, wie Rilke sagt: sie sind "zuhaus im Totsein". So verstanden, wäre die Freundin, die "zurückkehrt", die "umgeht", eine "Ungerechte" in ihrer jetzigen "Welt".

Wenn ich dieses Verständnis nun auf die schlaflosen Nächte beziehe: was wäre in diesem Sinne "gerecht", also richtig, "passend" für die Nächte?
Schlafen, ja, das ist ja klar. Aber: was bedeutet denn "Schlafen"?
Und mir fällt das Gedicht "Nächtens will ich mit dem Engel reden" ein, das ich hier einmal hereingestellt habe.

Und ja. Wenn die Nächte dazu da sind, mit dem Engel zu reden, auf seine Fragen zu antworten, ihm die eigenen Augen zur Verfügung zu stellen... dann ist es tatsächlich "ungerecht", stattdessen wach im Bett zu liegen und nur mit sich selber zu reden...

Lieber Boris, ich hoffe, Du kannst mit meinen Gedanken etwas anfangen.
Ich danke Dir für Deine Fragen!

Herzlichen Gruß

Ingrid

P.S.:
Boris hat geschrieben:Ungerecht sollte dann bedeuten, dass sie traurig sind / dass es ihnen schlecht geht, und nicht, dass sie schlechte Leute sind.
Ja, dem stimme ich zu.
Allerdings: die Tatsache, daß es einem "schlecht geht", hat wohl oft zur Folge, daß man auch "schlecht" ist zu anderen... wenn es einem aber "gut geht", dann könnte man die ganze Welt umarmen... also, ich finde jedenfalls, das läßt sich nicht immer so fein säuberlich trennen.

P.P.S.: Ich konnte übrigens keinen einzigen Fehler finden :wink:
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
sedna
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von sedna »

borisg hat geschrieben:2) Du weißt vielleicht nicht, wie die Nächte
für Menschen, die nicht schlafen, sind:
da sind sie alle Ungerechte,
der Greis, die Jungfrau und das Kind.

Ich verstehe das "Ungerechte" hier nicht ganz. Bedeutet es "unlauter"/"ungerechtfertigt" (was ist dann damit gemeint)? Oder was anderes?
den Schlaf der Gerechten schlafen = tief und ruhig schlafen können
heißt ein Sprichwort biblischen Ursprungs:

Psalm 3, 6
Ich liege und schlafe und erwache; denn der Herr hält mich.

Psalm 4, 9:
Ich liege und schlafe ganz mit Frieden; denn allein du, Herr, hilfst mir, daß ich sicher wohne

Sprüche Salomonis 24, 15
Laure nicht als ein Gottloser auf das Haus des Gerechten; verstöre seine Ruhe nicht.

Rilke folgert meiner Ansicht nach: Ruhig schläft, wer zuhause ist im Glauben an Gott – hier: die Gerechten.
Es entsteht dann der Gegensatz Gerechte = mit Gottesglauben, Gott gerecht werden können - Gottlose = ohne Gottesglauben, Gott nicht gerecht werden können.
Gott-Suchende zählten somit ebenfalls zu den Gott-Losen, schlafen dann folglich unruhig oder gar nicht - und hießen im Gegensatz zu den Gerechten bei Rilke folglich Ungerechte.
borisg hat geschrieben:Gibt's einen Zusammenhang mit

Ich habe Tote, und ich ließ sie hin
und war erstaunt, sie so getrost zu sehn,
so rasch zuhaus im Totsein, so gerecht,
so anders als ihr Ruf. ?
Es gibt zumindest wieder einen ähnlichen biblischen Ursprung:

Sprüche Salomonis 14, 32
Der Gottlose besteht nicht in seinem Unglück; aber der Gerechte ist auch in seinem Tod getrost.

sedna
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borisg
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von borisg »

Liebe Ingrid und Sedna,

Ganz herzlichen Dank für Ihre sehr interessanten und ausführlichen Antworte. Ich habe diese Frage aus einem praktischen Grund gestellt - ich bin Übersetzer als Hobby, und arbeite schon seit einem Jahr an dem Stunden-Buch, was mir sowohl viel Freude als auch viel Kopfzerbrechen bereitet. :)

Da ich ins Hebräische übersetze, waren mir die Zitate aus der Bibel besonders hilfreich - ich konnte das genaue Wort finden - tsadik - das, glücklicherweise, auch zur Metrik passt.

Also, nochmals, vielen Dank!
Boris.

P.S. Ich hab ein wenig nachgedacht, und ein passenderes Wort gefunden - yashar, das eine Mischung von gerecht, aufrecht und rechtschaffen ist (und das sich auch im hebräischen Idiom "Schlaf der Gerechten" befindet).
sedna
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von sedna »

Boris,

was Du da tust, klingt ziemlich gut. Meine besten Wünsche für Dein Vorhaben, - mit einem Rilke-Zitat aus einem Brief an Kappus von 1903, das mir hier so gut zu passen scheint:

"mit tiefer Demut und Geduld die Stunde der Niederkunft einer neuen Klarheit abwarten:
das allein heißt künstlerisch leben: im Verstehen wie im Schaffen.
Da gibt es kein Messen mit der Zeit, da gilt kein Jahr, und zehn Jahre sind nichts."

In diesem Sinne eine schöne und gute Zeit mit Rilke.

sedna
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borisg
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von borisg »

Sedna,

Wie immer weiß es Rilke so viel besser auszudrücken! Großen Dank für das wunderschöne Zitat.

Wenn ich darf, hatte ich noch zwei Fragen zu demselben Gedicht:

1) Es ist nichts andres. Nur ein Meer,
aus dem die Länder manchmal steigen.
Es ist nichts andres denn ein Schweigen...

Worauf bezieht sich das "es"? Was ist nichts anders? Die Beziehungen zwischen Rilke und Gott? Oder die ganze Weltordnung? Oder vielleicht ist es eine Konstruktion wie "Es sind viele Fische im Teich" (also, ein unpersönliches "es", und dann sollte damit gemeint werden, es gebe nichts anderes auf der Welt als ein Meer, ein Schweigen usw.)?

Um die Frage klarer zu machen - wenn wir den ersten Satz umkehrten, wie würde der klingen -
a) Nichts andres ist es. (und dann kommt die Frage, was "es" ist) - oder
b) Nichts andres ist. (existiert)

Ich fühle, dass Rilke unsre Aufmerksamkeit auf diese Stelle lenken wollte (mit der Kursivschrift, und mit der Wiederholung zwei Zeilen danach), aber ich bin nicht sicher was er damit wirklich gemeint hat.

2) Bin ich denn nicht das Allgemeine,
bin ich nicht Alles, wenn ich weine,
und du der Eine, der es hört?

Ich merkte nur heute, dass es nicht "der Allgemeine" sondern "das Allgemeine" geschrieben steht. Was bedeutet denn "das Allgemeine"? Ist das ein philosophischer Begriff? (Ich hab' dies gefunden: http://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeines_und_Einzelnes , obwohl ich keine Ahnung habe, ob es etwas mit dem Gedicht zu tun hat - und der Text ist recht schwerverständlich, um ehrlich zu sein)

Wie immer, vielen Dank im Voraus,
Boris.
sedna
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von sedna »

Boris,
Deine Fragen sind für mich eine Herausforderung, die noch andauert. Meine ersten Gedanken dazu bitte erst mal als Fragment einer Anregung betrachten, nicht etwa als ausgeformte Erklärung.
borisg hat geschrieben:1) Es ist nichts andres. Nur ein Meer,
aus dem die Länder manchmal steigen.
Es ist nichts andres denn ein Schweigen...

Worauf bezieht sich das "es"? Was ist nichts anders?
Dieses ist steht meines Erachtens für Dasein, Existenz, daher würde ich Dir vorschlagen (im Falle einer Auswahl von mehreren Begriffen im Hebräischen), das Verb zu nehmen, welches am tiefsten diese pure Seinsaussage enthält: reines, sich selbst aussagendes Dasein. Heißt nicht, es gibt sonst nichts andres – es stellt vielmehr das Individuelle heraus: was (da) ist, steht, und zwar für sich und nichts andres ausstrahlt, als sich selbst (mal gewagt behauptet: und wird dadurch glaub-würdig)
Daher meine ich, daß sich das scheinbar unpersönliche es wegen der Doppelung in der Strophe enger gefaßt auf das Existieren des Ich und Du im Gedicht beziehen könnte: Das ureigentliche Mönchsein ist im Schweigen, das Gottsein im Meer ausgedrückt und bedarf nichts andres. (Dazu fällt mir ein: Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand :shock: )
Andererseits transportiert es ist nichts andres weitaus mehr, aber dieser weitere Sinn an dieser Stelle entzieht sich mir immer wieder. Vielleicht hilft Dir ja das bislang Gesagte schon weiter.
Es gibt hingegen paßt hier nicht, es klänge im übrigen zu allgemein, ja, unpersönlich, während in Rilkes ist Eigenes und Seele mitschwingt.
Und das führt jetzt nicht nur zum Gottesbegriff in Rilkes Kunstauffassung, sondern auch zu Deiner nächsten Frage.
borisg hat geschrieben:Bin ich denn nicht das Allgemeine,
bin ich nicht Alles, wenn ich weine,
und du der Eine, der es hört?

Was bedeutet denn "das Allgemeine"? Ist das ein philosophischer Begriff?
Ja, durchaus. Das würde ich aber nicht überbewerten, weil Rilke meines Erachtens solche Theorien – wie auch einen christlichen Gottesbegriff in der Bibel – nach seiner Auffassung für seine Kunst umgeformt und als Eigenes hat hervortreten lassen (nur so aus dem Werk selbst heraus eröffnet sich mir beispielsweise der Zugang zu einem für mich unmittelbarn Verstehen von Rilkes Kunst. Daher kann man Rilkes Stundenbuch-Gebete nicht als "blasphemisch" bezeichnen, wie es einem schonmal begegnet, denn das wäre so eine elende gebändigte Sichtweise des eigentlich schön entfesselten Gottesbegriffs bei Rilke)

Es wird also kein gleichförmiger universaler Gott der Allgemeinheit, sondern der persönliche gesucht. (Beispiel aus Rilkes MALTE: "Ist es möglich, daß es Leute giebt, welche 'Gott' sagen und meinen, das wäre etwas Gemeinsames?") Und dieselbe Haltung begegnet mir im Stunden-Buch und verstehe ich aus einer Haltung gegenüber künstlerischem Schaffen heraus, die eine Antwort auf Deine Frage nach dem Allgemeinen in diesem Gedicht geben könnte. Sie wäre also eng verbandelt mit folgender 'Offenbarung' aus Worpswede (Hervorhebungen von mir):

"Der Künstler von heute empfängt von der Landschaft die Sprache für seine Geständnisse und nicht der Maler allein. Es ließe sich genau nachweisen, daß alle Künste jetzt aus dem Landschaftlichen leben. Sehr leicht ist zum Beispiel an altmodischen Gedichten zu sehen, wie man zaghaft glaubte, mit den Mitteln der Landschaft nur das Allgemeine sagen zu können; man meinte das Höchste erreicht zu haben, wenn man die Jugend dem Frühling, den Zorn dem Gewitter und die Geliebte der Rose verglich; man wagte gar nicht persönlicher zu sein, aus Furcht, von der Natur im Stiche gelassen zu werden. Bis man fand, daß sie nicht nur für die Oberfläche der Erlebnisse einige Vokabeln enthielt, sondern vielmehr Gelegenheit bot, gerade das Innerste und Eigenste, das Allerindividuellste, bis in seine feinsten Nüancen hinein, sinnlich und sichtbar zu sagen. Mit dieser Entdeckung beginnt die moderne Kunst."

Jetzt werde ich nochmal ganz vorne anfangen, weil ich ein wenig querverweisen möchte.

In Rilkes Künstlermonographie Worpswede (Erstveröffentlichung1903) findet sich zur ersten Strophe des Gedichts eine Entsprechung in der Beschreibung eines Lebensgefühls in der Künstlerkolonie Worpswede aus der Entstehungszeit des Stunden-Buchs:

"ein atemloses fortwährendes sich Hingeben an alles, was kam und was einen mitnahm und zurückließ wie eine Welle, so daß man immer wieder auf die nächste Welle wartete, die einen noch weitertragen sollte. Das führte immer tiefer ins Meer hinaus; aber auch das war gut: denn man lernte, wenn man an den Strand zurückwollte, die Arme gebrauchen."

Diese Wellen-Metapher du bist immer noch die Welle / die über alle Dinge geht wechselt dann den Stil, wird als individuelle hin- und herwogende Suchbewegung nach Gott schließlich das Allgemeine verschweigen (also das Landschaftliche mit-Gott-Vergleichen), weil das die lyrische Form jetzt innehat (ich kann so was nicht gut erklären :oops: ), aber es wird hier vielleicht klar, daß Gott wie eine Welle geht oder das Innerste und Eigenste, das Allerindividuellste, bis in seine feinsten Nüancen hinein, sinnlich und sichtbar gesagt wird:

"Bist du denn Alles, - ich der Eine,
der sich ergiebt und sich empört?
Bin ich denn nicht das Allgemeine,
bin ich nicht Alles, wenn ich weine,
und du der Eine, der es hört?"

Daß sich an dem Gewoge nichts geändert hat, sagt das gebetsmühlenartige Wiederholen seiner Position: Ich bin hier immer noch derselbe mönchisch Lebende aus dem 1. Buch, wo wir ja bereits lesen konnten:

"Denn jedem wird ein andrer Gott erscheinen,
bis sie erkennen, nah am Weinen,
daß durch ihr meilenweites Meinen,
durch ihr Vernehmen und Verneinen,
verschieden nur in hundert Seinen
ein Gott wie eine Welle geht."

Und kurz davor noch dieses:

"So hat man sie gemalt; vor allem Einer,
der seine Sehnsucht aus der Sonne trug.
Ihm reifte sie aus allen Rätseln reiner,
aber im Leiden immer allgemeiner:
sein ganzes Leben war er wie ein Weiner,
dem sich das Weinen in die Hände schlug."

Ich vertiefe mal kurz am Beispiel des Leids: Übertragen auf die fragliche Stelle könnte das Allgemeine vielleicht nicht als etwas Abgehobenes, sondern als Sehnsucht nach persönlichem Bezug gedeutet werden:

Bist du denn pures Leid – ich der Leidende, der sich ergiebt und sich empört?
Bin ich denn nicht alles Leid der Welt, bin ich nicht pures Leid, wenn ich weine und du der Mitleidende, der mich hört?
Und der einzige, der mich persönlich verstehen kann.

Öh, irgendwie fehlt da noch einiges. Ich muß nochmal drüber schlafen.

sedna (befürchtet, noch mehr Fragen aufgeworfen zu haben ...) :D
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von stilz »

Lieber Boris,

und nun auch noch meine Gedanken dazu:
Boris hat geschrieben:1) Es ist nichts andres.
...
Um die Frage klarer zu machen - wenn wir den ersten Satz umkehrten, wie würde der klingen -
a) Nichts andres ist es. (und dann kommt die Frage, was "es" ist) - oder
b) Nichts andres ist. (existiert)
Ich verstehe es in Richtung b) Nichts andres ist.
Vielleicht ergänzt zu: Auch jetzt noch ist nichts andres als damals, als ich kniete...

Liebe Sedna, ich kann auch Deinen Gedanken dazu sehr viel abgewinnen.
Und gerade wenn Du sagst
sedna hat geschrieben:Andererseits transportiert es ist nichts andres weitaus mehr, aber dieser weitere Sinn an dieser Stelle entzieht sich mir immer wieder.
, dann denke ich mir: das genau ist eine der Qualitäten in Rilkes Sprache. Es schwingt immer sehr viel mehr mit, als man in einer einzigen "konkreteren" Deutung nachzeichnen könnte. Das würde ich niemals "wegerklären" wollen, und ich freue mich immer, wenn ich Übersetzungen lese, die sich darum bemühen, den Raum, den Rilke öffnet, auch offenzulassen.


Und zur nächsten Frage:
Boris hat geschrieben:2) Bin ich denn nicht das Allgemeine,
bin ich nicht Alles, wenn ich weine,
und du der Eine, der es hört?

...Was bedeutet denn "das Allgemeine"? Ist das ein philosophischer Begriff? ...
Ich lese das mit Blick auf das im Gedicht zuvor Gesagte:
  • ... Ich war zerstreut; ...
    ...
    Jetzt bin ich wieder aufgebaut
    ...
    und sehne mich nach einem Bande,
    nach einem einigen Verstande,
    der mich wie ein Ding überschaut, -
    nach deines Herzens großen Händen -
    (o kämen sie doch auf mich zu).
    Ich zähle mich, mein Gott, und du
    du hast das Recht, mich zu verschwenden.
Hier ist "Gott" der "einige Verstand", der "Eine", der das "Ich" überschauen könnte "wie ein Ding" - der "Eine", nach dem das "Ich" sich sehnt, dieses "Ich", das sich nun "zählen" läßt, weil es "zerstreut" war und nun aus vielen Teilen "wieder aufgebaut" ist ... aber dieser "Eine" ist nicht etwas, das einfach so "da" ist, ohne daß das "Ich" etwas dazu tun müßte: der Wunsch nach den "großen Händen" des Herzens Gottes - "o kämen sie doch auf mich zu" - steht im Coniunctivus irrealis ...


Auch für mich geht es hier um die Suche nach dem "persönlichen Gott". Die "individuelle hin- und herwogende Suchbewegung" (danke, Sedna!) besteht für mich im Wechsel des Bewußtseinszustandes des "Ich", in einer Art "Umstülpung": das "Ich" stellt sich zunächst sich selbst gegenüber und wechselt dann sozusagen den "Standpunkt":

  • Bist du denn Alles, - ich der Eine,
    der sich ergiebt und sich empört?

- "Gott" ist "Alles", das "Ich" ist nur ein kleiner Teil des großen Ganzen, ein Teil, der sich nur entweder "ergeben" oder "empören" kann.


  • Bin ich denn nicht das Allgemeine,
    bin ich nicht Alles, wenn ich weine,
    und du der Eine, der es hört?

- Das "Ich" ist "Alles", ausgebreitet in das "Allgemeine".
Das "Weinen" in der Welt besteht aus nichts anderem als aus dem Weinen des "Ichs".
"Gott" ist nicht derjenige, der dieses "Alles" erlebt und damit sozusagen "erzeugt", sondern er ist der Eine, der es hört, also der Zeuge...


Ich finde es bemerkenswert, daß das "Buch von der Pilgerschaft" 1901 entstanden ist, wenige Jahre bevor Albert Einstein seinen berühmten Aufsatz "Zur Elektrodynamik bewegter Körper" veröffentlicht hat - für mich schildert Rilke hier den Zustand des menschlichen Bewußtseins im Übergang zu einer neuen Ära:
Früher erschien es den Menschen (und damit auch den Physikern, und natürlich den Naturwissenschaftern im allgemeinen) als ganz selbstverständlich, daß es in der Welt ein absolutes, unbewegliches Bezugssystem geben müsse, von dem aus sich der "Bewegungszustand" jedes einzelnen Dinges beurteilen lasse: aus "Gottes Blickwinkel" würde man die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind.
Und nun (1905) erklärt Einstein, daß jede Bewegung sich nur in Bezug auf andere Objekte beurteilen läßt: nach dem Prinzip der Relativität hat kein "Standpunkt" mehr das Privileg eines absoluten Ruhezustandes. "Gottes Blickwinkel" existiert nicht mehr...
Wie es Gustav Mie so schön formuliert hat: "Es ist eine interessante Beobachtung, daß auch die streng an experimentelle Erfahrungen gebundene Physik auf Bahnen geführt wird, die zu den Bahnen der geistigen Bewegungen auf anderen Gebieten durchaus parallel verlaufen." (1925, zitiert nach dem wunderbaren Buch von Arthur Zajonc, das ich sowohl natur- als auch geisteswissenschaftlich Interessierten wärmstens ans Herz legen möchte: Lichtfänger. Die gemeinsame Geschichte von Licht und Bewußtsein)


Herzlichen Gruß, und viel Freude beim Übersetzen!

Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von sedna »

Nun, es war nicht gerade eine sternklare Nacht für die Weiterentwicklung meines bisher Gesagten ... :?

Aber: danke auch Dir, stilz, Deine Gedanken führten mich zu Martin Bubers dialogischem Prinzip "Der Mensch wird am Du zum Ich". Das möchte ich jedoch nicht weiter vertiefen, weil ich sein Buch "Ich und Du" (erschienen 1923) nicht gelesen habe. Es zeigt sich mir dabei jedoch nach meinen bescheidenen Kenntnissen eine dramatische Ähnlichkeit von dieser Sehnsucht des Ich im Stunden-Buch nach Begegnung mit dem Du und Bubers Ansicht, daß es aufgrund der Einzigartigkeit für den Einzelnen einen ganz bestimmten individuellen Lebensweg gibt, auf dem er durch wahrhaftige Du-Begegnungen den Durchblick zum "ewigen Du" - Gott - erreichen kann, wenn er bemüht ist, er selbst zu werden und zu sein, und nicht jemand anders entsprechen will oder dessen Leben nachahmt.
stilz hat geschrieben:aber dieser "Eine" ist nicht etwas, das einfach so "da" ist, ohne daß das "Ich" etwas dazu tun müßte: der Wunsch nach den "großen Händen" des Herzens Gottes - "o kämen sie doch auf mich zu" - steht im Coniunctivus irrealis ...
Verstehst Du das als eine Art gedankliche "Leerlaufhandlung" des Ichs?

Wie wäre das (von mir Hervorgehobene) in diesem Zusammenhang zu verstehen:

Ich bin derselbe noch,der kniete
vor dir im mönchischen Gewand:
der tiefe, dienende Levite,
den du erfüllt, der dich erfand

Ich finde diese Stelle hochinteressant. Sie wirft aber wieder Fragen auf ...
Ich sehe beim Lesen des Stunden-Buchs sehr oft eine in Verehrung zerküßte Ikone, aber keine wirkliche Begegnung ...

Aber ich möchte nicht abschweifen - es geht ja letztendlich darum, einen passenden Begriff für das Allgemeine zu finden. Es bleibt also abzuwarten, was Boris aus all dem schließt.

Wie immer ;) frohes Schaffen

sedna
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von stilz »

sedna hat geschrieben:
stilz hat geschrieben:aber dieser "Eine" ist nicht etwas, das einfach so "da" ist, ohne daß das "Ich" etwas dazu tun müßte: der Wunsch nach den "großen Händen" des Herzens Gottes - "o kämen sie doch auf mich zu" - steht im Coniunctivus irrealis ...
Verstehst Du das als eine Art gedankliche "Leerlaufhandlung" des Ichs?
Äh - wieso "Leerlaufhandlung"?
Nein, keineswegs. Ich verstehe es als eine Art "Sehnsucht nach dem Paradies", nach einer Welt vor dem "Sündenfall", als die Existenz Gottes noch eine Selbstverständlichkeit war, eine "Ganzheit", um die man sich nicht erst unter Schmerzen und Zweifeln und, wie Rilke schreibt, "Schande", bemühen mußte, nach einer Welt, da die Gotteshände den Menschen trugen wie der Vater sein Kind... das alles steht natürlich bei Rilke nicht so da, es ist eine unvollkommene Verbalisierung meiner Empfindungen beim Lesen dieser Stelle (ich meine jetzt "und sehne mich nach einem Bande" bis "(o kämen sie doch auf mich zu)").

Das "Pilger-Ich" scheint mir diese Sehnsucht zu haben und gleichzeitig zu wissen, daß sie so nicht erfüllbar ist. Das Paradies kehrt nicht mehr zurück, ebensowenig wie die Kindheit zurückkehren kann (unter dem "Werden wie die Kindlein", von dem im Neuen Testament die Rede ist, stelle ich mir nicht eine Art "passiver Regression" vor, sondern etwas Neues, das so noch nie da war, und um das sich der Mensch eben erst bemühen muß).
Vielleicht könnte man es auch als die Sehnsucht nach dem "Vater-Gott" bezeichnen...
Denn im "Buch von der Pilgerschaft" heißt es ja dann:

  • Du Ewiger, du hast dich mir gezeigt.
    Ich liebe dich wie einen lieben Sohn,
    ...
    Ich bin der Vater, doch der Sohn ist mehr, ...

und noch etwas später:
  • ...
    Das ist der Vater uns. Und ich - ich soll
    dich Vater nennen?
    Das hieße tausendmal mich von dir trennen.
    Du bist mein Sohn. ...


Das ist jetzt allerdings etwas ins Blaue geantwortet, nicht nach sorgfältiger neuerlicher Lektüre, sondern nach meinen Empfindungen beim Lesen (bzw der Erinnerung an diese Empfindungen beim ersten Lesen, das halt schon eine Weile her ist).

Über Deine Frage nach dem "Leviten" (ein Levite ist ein Nachkomme Levis, eines der zwölf Söhne Jakobs, nicht wahr? Das würde natürlich irgendwie zu meinen Assoziationen passen...) bzw nach "den du erfüllt, der dich erfand" werde ich noch nachdenken - ich begreife gut, daß Du von einer "in Verehrung zerküßten Ikone" sprichst :wink: , ich habe mich hier im Forum wohl selbst einmal in eine ähnliche Richtung geäußert - aber das ist nur ein Teil, glaube ich; aber bevor ich darauf antworte, möchte ich noch einmal das ganze "mönchische Leben" und auch die "Pilgerschaft" im Zusammenhang lesen.
Dazu brauche ich wohl etwas mehr als eine sternklare Nacht... :D

Herzlichen Gruß!

stilz

P.S.: Und vielen Dank für den Hinweis auf Martin Buber!
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
sedna
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von sedna »

Ja, die zerküßte Ikone - diese Assoziation kam so unmittelbar ... Das Bild hab ich von Gunnar Ekelöf (und zeige es gern herum, wenn's mir irgendwo passend erscheint :mrgreen: ) Eine seiner echten Ikonen hat Ekelöf Nelly Sachs geschenkt, zu ihrem Schutz, gegen ihre Dämonen ... Auch Rilke hat von einer seiner Rußlandreisen um 1900 eine geschenkte Ikone mit heimgebracht. Schade, daß dieser kleinen Anekdote offenbar nicht viel Bedeutung beigemessen wird. Es ist absolut spektakulär, wenn ein russischer Bauer spontan seinen Haussegen von der Wand nimmt, um ihn Rilke zu geben, weil der ihn so tief beeindruckt hat. Ich hab das Bild nur schweiß-weiß, Schutzengel (Mitte) und segnender Christus (oben) ähneln ein bißchen diesem hier

http://www.ikonengalerie-von-kuelmer.de ... 7.3008.jpg

Von Ekelöf ist auch diese unerreicht auf den Punkt gebrachte Aussage: Gott gibt es, weil er uns fehlt.
stilz hat geschrieben:Äh - wieso "Leerlaufhandlung"?
Weil es dem Ich doch auch möglich wäre, die ganze Zeit bereits in Gottes Hand zu sein - gerade dadurch, daß es sich mit ihm auseinander setzt - es muß das nur erkennen können (lernen).
Es will in die unsichtbaren Arme genommen werden, so soll Gott das Ich ins Herz schließen, – aber fühlbar – und ohne eines Bildes zu bedürfen. Es ist also Sehnsucht nach dieser "Fühlung". Aber bei der Suche kommt irgendwie nix wirklich bei rum: Weil sich der Hunger staut, "erscheint" ein Objekt, man will begreifen, greift (ins Leere) – und so wird das nie satt machen. An wem ist es außerdem, zu handeln – und wie?
(Da kommt mir jetzt noch DIE Queste schlechthin in den Sinn, zumal die Wellen-Metapher aus dem Worpswede-Zitat unmittelbar voranstehend auf die Entdeckung und Wirkung von Richard Wagners Musik Bezug nimmt. Parzival vielleicht ... Das muß aber gar nichts heißen - ich bin heute nur ein bißchen in Plauderstimmung :oops: )

Rilke soll um die Entstehungszeit des Stunden-Buchs immer noch ziemlich viel kunsthistorische Literatur aus Rußland gelesen und sogar einiges ins Deutsche übersetzt haben.
Tolstoi sieht nun im Allgemeinen etwas Reifes, Unvoreingenommenes:

Die Menschheit wird durch ihre Natur dazu getrieben, unaufhörlich von einer niedrigen, parteiischen und unklaren Auffassung des Lebens zu einer höheren, allgemeineren und klareren zu gelangen.
(Leo Tolstoi: „Gegen die moderne Kunst“, 1898, 1 – Die wahre Kunst.) Könnte man bei Rilke auch so verstehen(?) Wer das Werk lesen möchte, es steht komplett im Netz:

http://www.archive.org/stream/gegendiem ... 2/mode/1up
stilz hat geschrieben:Das ist jetzt allerdings etwas ins Blaue geantwortet
Es sind gerade solcherlei Assoziationen, die ich schätze und die es hier manchmal so ungeheuer spannend werden lassen - gerade auch wieder das, was Du über Vater-Kind und Getragenwerden angesprochen hast. Die biblischen Bilder, die Rilke da mit seinen eigenen übermalt, sind ohne Zahl ... Wann käme überhaupt etwas zur Sprache, wenn wir das alles vorher schon miteinbeziehen müßten.
stilz hat geschrieben:ein Levite ist ein Nachkomme Levis, eines der zwölf Söhne Jakobs, nicht wahr? Das würde natürlich irgendwie zu meinen Assoziationen passen...
Genau. Die von Dir ergänzte Stelle läßt sich in tieferem Sinne nicht weglassen. Hier noch die passenden Bibelzitate dazu:

Jakob entzieht Simeon und Levi seine Vater-Seele - Jakobs Vermächtnis 1. Mose 1,7:
Verflucht sei ihr Zorn, daß er so heftig ist, und ihr Grimm, daß er so störrig ist. Ich will sie zerteilen in Jakob und zerstreuen in Israel.

Zählung der streitbaren Männer 4. Mose 1,48-49:
Und der Herr redete mit Mose und sprach: Den Stamm Levi sollst du nicht zählen, noch ihre Summe nehmen unter den Kindern Israel.

Das alles nur als kleine zusätzliche Anregungen. Oje, ich kann mich heute so schwer beherrschen, nicht ausufernd zu werden ... Dieser Faden hat ja inzwischen eine Länge angenommen, um ungeahnte Tiefen erreichen zu können :shock:
Aber es zählt ja zu den selteneren Augenblicken im Leben, wenn man wie Einstein langelange Zahlen- und Buchstabenkolonnen schließlich zu einer Formel aus nur fünf Zeichen verdichtet bekommt. Der hat aber fest dran geglaubt ;)

Schönen Sonntag

sedna :D

P.S. Ich bin ja schon sehr neugierig, stilz, ob der Lichtfänger mein Herz erwärmen könnte
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sedna
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von sedna »

Rilke hat geschrieben:"Bist du denn Alles, - ich der Eine,
der sich ergiebt und sich empört?
Bin ich denn nicht das Allgemeine,
bin ich nicht Alles, wenn ich weine,
und du der Eine, der es hört?"
Boris,

Du hast zwar nicht danach gefragt, aber da wäre noch eine Ergänzung für das Verb empören im Hinblick auf mehrfachen Wortsinn, welcher bei Rilke (zum Leidwesen der Übersetzer) sehr häufig zu finden ist, und einem hier vielleicht nicht sofort auffällt (wie mir zum Beispiel, was jetzt nichts heißen soll, aber vielleicht hilft's irgendwem doch noch)

Mit Blick auf die Deutung von "Alles" und "das Allgemeine" = das Höchste, kann "sich empört" in der Bedeutung von "gefühlsmäßig aufgebracht sein" zugleich auch im Sinne von "sich emporheben" eines Untergebenen verstanden werden.
Zusammengefaßt also: der zutiefst Einsame hebt sich aus der Versunkenheit zu dem Höchsterreichbaren empor und hinterfragt (sagen wir mal: gleichzeitig innerlich aufgewühlt) die Positionen.

sedna :)

Oh, noch ein Nachtrag zu den Positionen: Ein Verschwiegener kann auch ein Versunkener sein (in Gedanken)
Und: Man kann im Meer versunken sein, und das Meer kann wiederum aufgewühlt sein.
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stilz
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von stilz »

sedna hat geschrieben: da wäre noch eine Ergänzung für das Verb empören im Hinblick auf mehrfachen Wortsinn, welcher bei Rilke (zum Leidwesen der Übersetzer) sehr häufig zu finden ist, ...
... kann "sich empört" in der Bedeutung von "gefühlsmäßig aufgebracht sein" zugleich auch im Sinne von "sich emporheben" eines Untergebenen verstanden werden.
Liebe sedna,

davon habe ich noch nie gehört - und das würde mich sehr interessieren, wo diese Auffassung von "empören" bei Rilke sonst noch, gar "häufig", zu finden wäre.

Ich verstehe "sich empört" hier bisher einfach als Gegensatz zu dem unmittelbar davorstehenden "sich ergiebt" ...

Im "Grimm" lese ich:
EMPÖREN , excitare, aufbringen, aufregen, mhd. enbœren, mit langem vocal, Wilh. 316, 15. Neidh. 23, 18, wie schon bor auf kôr, trôr reimt (gramm. 1, 206), keine aus dem vorhergehenden empor = enbor zu leitende bildung, sondern, wie andere verba, mit en = ent zusammengesetzt, obwol dem sinne nach auch ein emporheben, erheben. im voc. theut. 1482 g 4a steht enporen, aufheben, levare, erigere.

---

Nun - wie dem auch sei.
Im Zusammenhang mit unserem bisherigen Gespräch, insbesondere mit dem Ausspruch
Ekelöfs, den Du zitierst: "Gott gibt es, weil er uns fehlt." - also, in diesem Zusammenhang möchte ich, bevor ich eine weiter Antwort versuche, jetzt einmal aufmerksam machen auf den Essay Jesus der Jude von Lou Andreas-Salomé.
Über diesen Essay schreibt Rilke in seinem allerersten Brief an Lou, am 13. Mai 1897 (Donnerstag):
René Maria Rilke hat geschrieben:Gnädigste Frau,
es war nicht die erste Dämmerstunde gestern, die ich mit Ihnen verbringen durfte.
...
Ein Brief Conrads verwies mich auf einen drin [in der "Neuen Deutschen Rundschau", April 96; Anm. stilz] befindlichen Essay "Jesus der Jude". Warum? Dr. Conrad hatte damals ein paar Theile meiner "Christus-Visionen" ... gelesen und muthmaßte, daß mich jene geistvolle Abhandlung interessiren dürfte. Er hat sich getäuscht. Nicht Interesse war es, was mich tiefer und tiefer in diese Offenbarung führte, ein gläubiges Vertrauen ging mir auf dem ernsten Wege voran, und endlich wars wie ein Jubel in mir, das, was meine Traumepen in Visionen geben, mit der gigantischen Wucht einer heiligen Überzeugung so meisterhaft klar ausgesprochen zu finden. Das war die seltsame Dämmerstunde, deren ich gestern wieder gedenken mußte.
Sehen Sie, gnädigste Frau, durch diese eherne Kargheit, durch die schonungslose Kraft Ihrer Worte empfing mein Werk in meinem Gefühl eine Weihe, eine Sanktion. Mir war wie einem, dem große Träume in Erfüllung gehen mit ihrem Guten und Bösen; denn Ihr Essay verhielt sich zu meinen Gedichten wie Traum zu Wirklichkeit wie ein Wunsch zu Erfüllung.
Herzlichen Gruß,

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von sedna »

stilz hat geschrieben:davon habe ich noch nie gehört - und das würde mich sehr interessieren, wo diese Auffassung von "empören" bei Rilke sonst noch, gar "häufig", zu finden wäre.
stilz, das war mißverständlich formuliert. Ich meine der mehrfache Wortsinn schlechthin kommt bei Rilke häufig vor, nicht der von "empören" - tut mir leid. Aber im Sinne von Grimm lese ich es bei Rilke als Möglichkeit einer Mehrdeutigkeit des Sinns, aber nicht bezogen auf die mehr oder weniger sichtbaren Wurzeln des Wortes. Es kann so verstanden werden, nicht es ist bewiesen, daß ... und auch kein Es darf nicht sein. Es geht ja um Dichtung und ihren Freiraum bzw. Spielraum - und herrje, wieviele Worte kannte ich vor Rilke noch nicht ... Ich möchte hier doch nur "meine Bilder" dazustellen, nicht gegen andere austauschen :)
Rilke hat geschrieben:Ihr Essay verhielt sich zu meinen Gedichten wie Traum zu Wirklichkeit wie ein Wunsch zu Erfüllung.
Ja. Da bin ich gedanklich gerade dran. Mir geistert - gerade wegen der Vater-Sohn Thematik - die ganze Zeit schon die Redewendung "Der Wunsch ist der Vater des Gedankens" durch den Kopf.
Daraus könnte man jetzt "Ihr Essay ist die Mutter seiner Gedichte machen" ... :mrgreen:
Die Gedichte werden also (im rilkeschen Sinne) erst wirklich und gehaltvoll durch diese wunschtraumhafte Begegnung mit dem Essay.

Das klingt nicht ganz stimmig, ist aber auch wieder nur der Anfang eines Gedankengangs.
Ich bin gespannt, wie es weiter geht. Dieser Faden gibt mir viel.

sedna :D
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Re: Ich bin derselbe noch, der kniete...

Beitrag von sedna »

Es scheint mir doch notwendig, noch einmal auf das Wort "empört" einzugehen, weil ich das Gefühl nicht loswerde, daß wir hiermit auf etwas Eigentliches bei Rilke gestoßen sind. Ich wurde im Nachhinein stutzig, warum Grimm "sich erheben" unter "empören" überhaupt soviel Gewicht beigemessen hat, - wenn es nicht genau um das Ding geht, das Rilke so am Herzen gelegen hat: Das Sinnliche in der Sprache zur vollen Entfaltung zu bringen: Hier sinnlich wiederum im Doppelsinn - einmal Wortsinn als Wortcharakter oder Persönlichkeit, die entfaltet werden kann, zum anderen als sinnliche Wahrnehmbarkeit dieser "unsäglichen" Entfaltung eines Wortes.
Normalerweise bewegt man sich durch ein Gedicht wie durch eine Bildergalerie. Bei einem Rilke-Szenario hingegen kommt zuweilen hinzu, daß in jedem einzelnen Bild, in das man sich gerade vertieft hat, durch Perspektivwechsel überraschenderweise wieder andere Bilder erscheinen, verschiedene in einem, die auch noch Musik machen! Ein beispiel ist halt dieses "empört" - na ich wäre aber nicht auf die Idee gekommen, diese sinnliche Wirkung, die so gut ins neue Bild paßte durch ein Wörterbuch in Frage zu stellen :shock: :)
Das, meine ich, macht gerade Rilke-Übersetzungen so kompliziert.

Meine Erfahrung (bezogen auf mein stummes und klingendes Lesen) nochmal zusammen gefaßt: Es machte Sinn "empört" an der besagten Stelle als "emporheben" zu verstehen, weil es ins Bild paßte, weil für mein Höhen-und-Tiefen-Bild plötzlich etwas Erhabenes im Wesen dieses Wortes aufgetaucht ist, das unmittelbar sinnlich erfahrbar war.

Es ist wohl so, daß Rilkes Dichtung wie keine andere einem Worte persönlich näher bringen kann; die treten dann in Beziehung zueinander: mit sich selbst und entfernt ;) auch mit anderen, treffen sich woanders wieder und haben immer was Neues zu erzählen.
Das paßt wiederum zum eigentlichen Thema und das Kreisen darum, für ein Wort einen entsprechenden "Gesprächspartner" in einer anderen Sprache zu finden. Denn die Sinnfindung bzw. Erfahrbarkeit der Worte hat mehr als bei anderen Dichtern mit Gefühl und Glauben zu tun, und wenig mit Logik und Ableitung. Deshalb habe ich nochmal dieses Rilke-Gedicht vom 6. November 1897 hervor geholt:

Die armen Worte, die im Alltag darben,
die unscheinbaren Worte, lieb ich so.
Aus meinen Festen schenk ich ihnen Farben,
da lächeln sie und werden langsam froh.

Ihr Wesen, das sie bang in sich bezwangen,
erneut sich deutlich, daß es jeder sieht;
sie sind noch niemals im Gesang gegangen
und schauernd schreiten sie in meinem Lied.

Die Worte werden also (mit oder ohne Lampenfieber) "zu ihrem Guten" auf die Bühne gestellt und dürfen dort singen, tanzen, musizieren. Diese Entfaltung enthält freilich im übertragenen Sinne ein "Raus aus dem Wörterbuch", der Bindung an bedeutungsverarmte Ausdruckslosigkeit und "Rein in die Dichtkunst" wo ihnen DER Freiraum zur Verfügung steht, um noch ungewöhnliche Fähigkeiten zum Ausdruck kommen zu lassen, die Aufmerksamkeit erregen (vielleicht gar "empören" :) )
Worte lieben hieße Worte aufleben oder noch besser: sich ausleben lassen.
(Und mein Dauerfehler im Deutschen, bei der Pluralbildung von Wort immer Worte sagen zu müssen, statt Wörter - der kommt wohl vom Rilke-Lesen und der wohl unbewußten Entscheidung, daß Worte ästhetischer klingt und damit richtig sein muß :lol: )

sedna
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