Ernste Stunde

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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lisa b.
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Re: Ernste Stunde

Beitrag von lisa b. »

hallo lilaloufan
also könnte man es auch als liebesgedicht interpretieren.....sozusagen kann man das ganze gedicht als metapher sehen für die liebe....vielen dank das hat mir ein wenig weitergeholfen :D
liebe grüße
lisa
DoMi
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Re: Ernste Stunde

Beitrag von DoMi »

Hallo ihr Lieben...

Mir ist gerade beim Lesen eurer Beiträge noch etwas eingefallen. Zunächst einmal aber möchte ich sagen, dass mir persönlich dieses Gedicht - ähnlich wie gliwi - auch eher verschlossen bleibt. Da stellt sich dann mir aber die Frage, ob es überhaupt so tief verstanden werden muss?

Beim Lesen - wie gesagt - ist mir aufgefallen, dass für mich durchaus eine Gewisse Handlung, oder zumindest eine Entwicklung innerhalb dieses Gedichtes zu finden ist.
Das lyrische Ich ist verzweifelt und er kann sich kaum Anderes, Schlimeres vorstellen. So - wenn man es nun mal einfach betrachtet - stellt des lyrische Ich zunächst fest, dass derjenige, der "irgendwo in der Welt [...] weint" über ihn - in seiner "ernste[n] Stunde", in seinem Leid - weint und sogar, in der zweiten Strophe, ihn auslacht! Dies klingt für mich nicht nach "Menschlickeit", bzw. Freundlichkeit - wohl eher nach Verzweiflung. Er sieht die Menschen nicht mehr fröhlich oder aus dem Menschenglück heraus lachen, sondern sieht nur noch das Negative, nämlich das angreifende Ver-lachen. Sein Leid in dieser Stunde ist für ihn so unermeßlich groß - und für ihn allein zu klein -, dass er scheinbar andere Menschen auf der Welt mit in dieses hineinziehen muss - sie beginnen zu weinen und zwar über ihn. Es kann zu diesem Zeitpunkt kein grundloses, bloßes Weinen geben.
Zudem wechselt er in Strophe 2 von "Welt" zu "Nacht". Warum? Für mich deshalb, weil er keine Hoffnung mehr sieht, es ist dunkel um ihn herum, leidvoll dunkel.

Nun in der dritten Strophe aber scheint sich etwas zu ändern.
Vom entgegengesetzten Handeln der Mitmenschen wird es zum helfenden, hoffnungsvollen Handeln. Es kann noch Hoffnung geben, es gibt Menschen, die in diesem Moment vielleicht zu ihm gehen, um ihn aus dieser Stunde herauszuführen. Sie lachen ihn nicht aus, sie helfen ihm - aus Liebe!

Doch dann...der Tod? Für mich erscheint dies überraschend. Das lyrische Ich scheint sich zu rehabilitieren, doch dann der Tod. Und dann stellt sich die Frage: Kann es sein, dass mein eigenes Leid so groß ist, dass ich es zwar gerade noch ertrage, andere Menschen, die davon erfahren, aber daran zu Grunde gehen; ohne ersichtlichen Grund? "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!", heißt es - doch kann, darf es so weit gehen, dass man durch diese Liebe, dieses Mit-Lieben und somit durch dieses Mit-Leiden bis in den Tod hinein geht? Hier denke ich an Nietzsche, der vom Mitleid, als eine "Verdopplung des Wehs" (Jenseits von Gut und Böse 30) spricht und somit in Zarathustra II zu dem Schluss kommt: "aber Besseres schien ich mir stets zu tun, wenn ich lernte mich besser zu freuen."


So gesehen, kann man dann doch mehr in diesen paar Zeilen finden, als man zunächst glaubt.

Liebe Grüße,

Dominik
stilz
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Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
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Re: Ernste Stunde

Beitrag von stilz »

DoMi hat geschrieben: Beim Lesen - wie gesagt - ist mir aufgefallen, dass für mich durchaus eine Gewisse Handlung, oder zumindest eine Entwicklung innerhalb dieses Gedichtes zu finden ist.
Lieber Dominik,

ja. Auch ich sehe eine Entwicklung.
Und ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal aufmerksam machen auf den Prädikatwechsel in der letzten Strophe, den Christoph schon erwähnt hat:
  • Wer jetzt stirbt irgendwo in der Welt,
    ohne Grund stirbt in der Welt:
    sieht mich an.
Zum Wechsel von "Welt" zu "Nacht" in der zweiten Strophe habe ich - einmal abgesehen davon, daß es natürlich auch noch ein sehr schöner Binnenreim ist - etwas andere Assoziationen:
Ich denke, wenn ich bei Rilke "Nacht" lese, einerseits an Gedichte wie Abend oder Nächtlicher Gang - da zeigt sich eine Stimmung, in der kein Platz ist für "grundloses Lachen". Dennoch würde ich diese "ernste" nächtliche Stimmung nicht als "Leid" oder "Verzweiflung" bezeichnen.
Andererseits gibt es aber auch die Menschen bei Nacht, die anderes im Sinn haben, und die den nur auslachen, der "nächstens mit dem Engel reden" will...

Du hast recht. Man kann sehr viel finden in diesen wenigen Zeilen!

Lieben Gruß

Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Paula
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Re: Ernste Stunde

Beitrag von Paula »

Hallo,

habe heute meinen interpretatorischen Tag und möchte gerne noch einen Gedanken beisteuern zu diesem Thema.

Die letzte Strophe hat es, finde ich, in sich. Ich sehe darin einen zukunftsweisenden Weg. Denn: für mich gibt es einen Unterschied zwischen Tod und Sterben. Sterben ist ein Vorgang, der zum Tod führt, aber noch nicht der Tod an Sich ist. Bleiben in den vorhergehenden Versen die Verben gleich, so gibt es im Sterben eine Zukunft, nämlich das Sehen, das Sich-An-Sehen. Es führt also weiter, über das Sterben hinaus. Zum Sehen fallen mir verschiedene Dinge ein: das Sehen im Jenseits, die Erlösung des Sterben Christus und der Weg zum Sehen Gottes, aber auch das Sehen-Lernen Maltes auf dem Weg durch die moderne Zeit und noch Einiges mehr (denken wir an das Erinnern im Sterben an das zurückliegende Leben oder an die Berichte aus dem Tod Zurückgekehrter). Ich würde nicht unbedingt fragen, wer das Ich (oder das Wer) sei, auf den sich das Gedicht bezieht. Ich verstehe es Allgemeingültiger und könnte es auf jeden Lebendigen beziehen. Es scheint mir auch eine Art Gebet, Meditation zu sein.

Paula :D

ps: gerade fällt mir auf, dass auch die Strophe zuvor schon , wenn auch "ohne Grund" - zielgerichtet ist - "geht zu mir" - und so bereits auf das "ansehen" in der letzten hinweist.
Mona
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Re: Ernste Stunde

Beitrag von Mona »

Habt Ihr schon mal einen Menschen in seiner letzten Stunde begleitet ? Welche Erfahrungen habt Ihr dabei gemacht ?

Fragt, nachdenklich,

Mona
"Wie man sich lange über die Bewegung der Sonne getäuscht hat, so täuscht man sich immer noch über die Bewegung des Kommenden. Die Zukunft steht fest,... wir aber bewegen uns im unendlichen Raume."(RMR)
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lilaloufan
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Re: «Ernste Stunde» - @Lisa

Beitrag von lilaloufan »

Hallo Lisa,

am Montagabend kam ich von einer Reise zurück und fand Dein letztes Posting. Ich bin zunächst wirklich erschrocken. Ein «Liebesgedicht»??????? Ich war nur zu müde gleich zu posten, sonst hätte ich gleich abgewehrt. Sogar in der Nacht hat es mir eine Weile keine Ruhe gelassen: Sooo wollte ich doch nicht verstanden worden sein.

Dienstagfrüh hatte ich dann keine Zeit, weil ich gleich in die Konferenz gehen musste, und mein Entsetzen über den Begriff «Liebesgedicht» wich anderen Gedanken. Heute Abend nun kann ich Dir ganz gelassen schreiben.

Wenn wir den Begriff «Liebesgedicht» all jener Trivial-Vorstellungen entkleiden, die wir von schmachtenden Poeten unter Veroneser Balkonen haben mögen, dann mag es „Liebes-Gedichte“ sogar von Rilke geben. «Wie soll ich meine Seele halten» zum Beispiel wäre dann, aber nur dann, ein «Liebesgedicht».

Liebe im Sinne von Liebe-Erleben war ohne Zweifel auch ein Lebens-Thema für Rilke - aber in seiner poetischen Aufgabe, in seiner „Großen Arbeit“, wandte er sich der Liebe im Sinne von strömender, verwandelnder Liebe-Kraft zu. Im ersten Sinne betont er oft, vor allem in Briefen, dass Liebe-Erleben sich zuletzt nicht von Mann zu Frau, von Frau zu Mann, sondern von Mensch zu Mensch erfüllen werde, und das sinnliche Wohlgefühl, einander im geschlechtlichen Liebe-Erleben hingegeben zu sein, bereitet das genusshaft vor, wer wollt’s missen? Im zweiten Sinne wiederum, als geistiges Vermögen, ist Liebe etwas Menschheitliches, ein Hingegebensein nicht an das Flüchtige des augenblicklich attraktivsten Favoriten, sondern an seine ewige Individualität, existentiell - und niemals durch Exklusivansprüche bewehrbar noch durch Exklusivitätsschwüre beengbar.

In einem solchen Sinne durchdringt Liebe (Agape) nicht nur verriegelte Türen, sondern alles, Turbulenz und Stille, Weinen und Lachen, Lebenswege und Todesmomente. «Sie ist ohn Anbeginn, schlug ewig ihre Flügel, und schlägt sie ewiglich.» (Matthias Claudius)
  • Und: In einem solchen Sinne beginnt Liebe beim hingegeben ruhenden Blick auf eine Erscheinung, erlauscht deren Wesen, lebt sich ein in dessen Daseins-Sinn - legt vor allem nie eine Bedeutung hinein in die Erscheinung, sondern liest, „vertraut“ werdend, das "zeitlos Gegenwärtige" heraus. In Rilkes Ideal, als «intransitive Liebe», ist sie ganz Haltung, nimmt kein Objekt, bietet dem Du sich dar. So betrachtend könnte ich ebenso leicht und gültig befinden, Rilke habe keine einzige Zeile von Art der poetologischen Kategorie «Liebesgedicht» geschrieben (sondern allenfalls aus liebewarmer Seele verfasste Gedichte mit der Gebärde des Liebenden etlichen Frauen zugeeignet), wie ich (der Salzstreuer steht griffbereit) behaupten kann, Rilkes Gesamtwerk sei "ein großes «Liebesgedicht»".
    {Diesen Absatz hab' ich am Donnerstagmorgen noch ergänzt.}
p_#8438: Hier hat stilz die Frage nach Agape behandelt, da kannst Du Dich orientieren.
  • (Ich weiß @stilz, die Frage, die Du mir am Ende Deines Postings, auf das ich hier verlinke, stellst, hab’ ich mir noch immer nicht beantwortet…)
Also, Lisa, wir haben’s Dir nicht leicht gemacht eine passable Note zu kriegen, aber ich hoffe, wir haben ein paar Fragen angestoßen, die vielleicht erst dann so richtig zu leben beginnen, wenn die Schulzeit mit all ihren „Leistungs“-Kursen vorüber ist, irgendwann in Deinem eigenen Leben.

Danke jedenfalls dafür, dass Du Dich darauf eingelassen hast, uns auch die ratlosen Versuche anzuvertrauen, die Dir zu Deinen Hausaufgaben eingefallen sind! Die können wertvoller sein als jedes Expertenwissen, sogar dann, wenn sie inhaltlich „ganz daneben“ sind. Denn sie hinterlassen ein Rumoren :). Rumoren nämlich kann sich steigern zum Interesse. Und dieses gehört zum Allerkostbarsten: In ihm lebt - unser Ich.

Herzlichen Gruß!
Christoph
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
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