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"Die Welt steht auf mit euch" Meinungen

Verfasst: 24. Sep 2007, 12:47
von InAshesWeLie
Die Welt steht auf mit Euch

Jetzt wäre es Zeit dass Götter träten aus
bewohnten Dingen
Und das sie jede Wand in meinem Haus umschlügen
Neue Seite
Nur der Wind den solches Blatt im Wenden würfe reichte hin
Die Luft wie eine Scholle umzuschaufeln:
Ein neues Atemfeld
Oh Götter Götter!
Ihr oftgekommenen Schläfer in den Dingen
Die heiter aufstehn die sich an den Brunnen
Die wir vermuten Hals und Antlitz waschen
Und die ihr Ausgeruhtsein leicht hinzutun
Zu dem was voll scheint unserm vollen Leben
Noch einmal sei es euer Morgen Götter
Wir wiederholen
Ihr allein seid Ursprung
Die Welt steht auf mit euch und Anfang glänzt
An allen Bruchstellen unseres Misslingens


hallo erstmal.

Was haltet ihr von diesem Gedicht? Wie findet ihr die Vertonung? Ich habe es außerdem mal versucht zu interpretieren, allerdings ist es mir fast schon zu schwer. Für mich wirkt es wie ein Gedicht der Verehrer der Naturreligion. Dass im Prinzip hinter jedem Ding bzw. jeder Pflanze ein Gott steckt, dass alles von Götter erschaffen wurde. Trotzdem bleibt es für mich eines der absolut rätselhaftesten Gedichte Rilkes und fast finde ich es schön, dass ich es nicht wirklich erfassen kann. Mir ist auch aufgefallen, dass es zum Beispiel auf der Rilke CD zu hören ist, es aber trotzdem so wenig über dieses Gedicht zu lesen gibt. Keine Meinungen und Rezensionen, nicht einmal wirklich Kritik. Deswegen würde ich mich freuen, ein paar andere Ansichten zu lesen.
Schönen Nachmittag :D

gruß

Verfasst: 28. Sep 2007, 12:54
von Valumen
Ich versuche dann einfach mal, etwas dazu zu sagen...

Die Vertonung kenne ich noch nicht!

Für mich klingt in den Worten wieder einmal eine große Sehnsucht mit. Die bewohnten, also vertrauten Dinge werden dadurch, daß auf einmal etwas Göttliches heraustritt (das ja also vorher da drin war), wieder neu, wieder so, daß man besser zweimal hinschaut und hinterfragt. Das Umschlagen der Wände ist ja etwas fast Gewalttätiges, etwas grundlegend Umwälzendes- als ob Rilke vom Status Quo genug hätte und eben diese Veränderung herbeisehnt. Daß die Schöpfer wieder tätig werden, wie eben nur sie es können (weiter unten: Sie allein können neu erschaffen, wir sind keinesfalls Schöpfer, sondern nur Nachahmer, das stutzt den Menschen auch mal auf seine tatsächliche Größe zurück...), und daß in diesem Umbruch ein Neuanfang liegt, der Hoffnung gibt. Nocheinmal von vorne anfangen? Einen Neubeginn des Lebens wagen? Ich weiß daher gar nicht, ob er wirklich die Naturreligion meint oder ob er Götter hier einfach als eine dermaßen andere- auch gefühllose, weil zu mächtige- Größe hinter den Dingen sieht. Sorry, wenn der Unterschied, den ich meine, nicht deutlich genug wird, hier stoße ich wieder an meine sprachlichen Grenzen... Mich fasziniert bei diesem Gedicht wieder die Ahnung des ganz anderen ("...an den Brunnen, die wir vermuten...") Wir haben unsere Bilder von allem, könnnen aber bei so vielem letztendlich nur raten, und ich bin dermaßen gespannt auf die Auflösung des Rätsels um Gott (ich bin in diesem Fall für den Singular :wink: ).

Ich würde mich freuen, hier noch weitere Gedanken zu lesen!

Verfasst: 5. Okt 2007, 11:07
von stilz
Dieses Gedicht ist tatsächlich nicht ganz einfach zu verstehen (danke, valumen, daß Du es wieder hervorgeholt hast!).
Bevor ich aber meine Gedanken dazu aufschreibe, möchte ich es erst einmal in der Gestalt hereinstellen, wie es in meinem Rilke-Band („Die Gedichte“, Insel) abgedruckt ist:

Jetzt wär es Zeit, daß Götter träten aus
bewohnten Dingen…
Und daß sie jede Wand in meinem Haus
umschlügen. Neue Seite. Nur der Wind,
den solches Blatt im Wenden würfe, reichte hin,
Die Luft, wie eine Scholle, umzuschaufeln:
ein neues Atemfeld. Oh Götter, Götter!
Ihr Oftgekommnen, Schläfer in den Dingen,
die heiter aufstehn, die sich an den Brunnen,
die wir vermuten, Hals und Antlitz waschen
und die ihr Ausgeruhtsein leicht hinzutun
zu dem, was voll scheint, unserm vollen Leben.
Noch einmal sei es euer Morgen, Götter.
Wir wiederholen. Ihr allein seid Ursprung.
Die Welt steht auf mit euch, und Anfang glänzt
An allen Bruchstelln unseres Mißlingens…



Das Gedicht steht auf S 834 f, im Abschnitt „Die Gedichte 1922 bis 1926“, und ich möchte auch noch die Gedichte und Bruchstücke hereinstellen, die sich unmittelbar davor und unmittelbar danach finden:


Unaufhaltsam, ich will die Bahn vollenden,
mich schreckt es, wenn mich ein Sterbliches hält.
Einmal hielt mich ein Schoß.
Ihm sich entringen, war tödlich:
ich rang mich ins Leben. Aber sind Arme so tief,
sind sie so fruchtbar, um ihnen
durch die beginnliche Not
neuer Geburt zu entgehn?


Schon etwas von dem Abschied schwebt und drängt,
schon flecken gelbe Blätter die Fontäne
wo Polyphem Verliebten überhängt;
der Himmel, stumm und irgendwie gekränkt,
leistet Verzicht auf die zu leichte Träne.


Lazar, da er aufstand, Lazar hatte / …


Bronzene Glocke, von eisernem Klöppel geschlagen,
hatte sein Herz einen unüberwindlichen Klang


Dann folgt eben

Es wäre Zeit, daß Götter träten aus…

und unmittelbar danach steht Rilkes Grabspruch;

Rose, oh reiner Widerspruch, Lust,
niemandes Schlaf zu sein unter soviel
Lidern.




Es ist sonst nicht meine Art, „biographisch“ zu interpretieren. In diesem Fall möchte ich da doch eine Ausnahme machen (da auch solche Bruchstücke wie "Lazar" abgedruckt sind, handelt es sich wohl nicht um von Rilke autorisierte, sondern um posthume Veröffentlichungen?).
Mir erscheint der biographische Zusammenhang jedenfalls bedeutungsvoll, schon für die erste Zeile:

Jetzt wär es Zeit, ...
denn das deutet auf eine ganz bestimmte Zeit hin, auf ein Geschehen, das "jetzt" zu erwarten wäre...

Man kann das natürlich auch im „Menschheitszusammenhang“ zu sehen versuchen.
Ich sehe es im Moment vor allem in Bezug auf Rilkes eigenes Leben, das an einem „wendenden Punkt“ angelangt ist.
Rilke ist krank. Todkrank.


Auch die Passage
Und daß sie jede Wand in meinem Haus
umschlügen. Neue Seite.

läßt mich darauf schließen, daß in diesem Fall Rilkes eigenes umittelbares Erleben gemeint ist.

Was er ersehnt, ist ein „neues Atemfeld“ – es wird für ihn immer mühsamer. die Luft, die ihn umgibt, zu atmen, sie müßte „umgeschaufelt“ werden wie ein Acker.
Dazu brauchte es gewaltigen „Wind“ --- einen Wind, wie er entstehen könnte, wenn die in den Dingen gefangenen Götter herausträten. – Dabei denke ich an die kabbalistische Vorstellung vom „Exil“ Gottes, der sich zurückgezogen hat, und daher ist auch der Mensch nun im „Exil“, im Raum ohne Gott; die „göttlichen Funken“ sind in den Dingen gefangen und harren der Erlösung…

Ihr Oftgekommnen“, schreibt Rilke.
Das berührt mich sehr --- ich denke dabei an seine „Ding-Gedichte“, seinen persönlichen Beitrag zur „Erlösung der in den Dingen gefangenen Götter“ – er konnte es wohl immer wieder erleben, wie diese Götter in begnadeten Momenten heiter aufstanden und ihr "Ausgeruhtsein" zum Leben dazutaten, zu einem Leben, das doch auch davor schon „ganz“ zu sein schien, und erfüllt, ein „volles Leben“ eben…

Nun scheint es, daß Rilke an einem Punkt seines Lebens angelangt ist, an dem ihm sehr bewußt wird, daß ohne diese Götter sein Leben nicht „voll“ sein kann. Und er bittet:
Noch einmal sei es euer Morgen, Götter.

In den letzten Zeilen scheint sich das Bild, daß der Mensch, der Dichter, die Aufgabe hat, die Götter zu „erlösen“, umzukehren: die Götter sind es nun, die Rilke bittet, aktiv zu werden.
Daraus spricht für mich eine Demut, die mich erinnert an
Vater. In Deine Hände befehle ich meinen Geist.

Aber diese Demut ist nicht hoffnungslos-resignativ, eben nicht mut-los (ich gerate in Entzücken darüber, wie der „Mut“ drinsteckt in diesem Wort: „Demut“ --- kleiner Exkurs, den Ihr mir Sprachbe-geisterter verzeihen werdet :wink: ), denn zum Schluß wird die scheinbare Dunkelheit erhellt durch einen Glanz:
...und Anfang glänzt
an allen Bruchstelln unseres Mißlingens …


Ist das nicht wunderbar?
Mißlingen bedeutet gleichzeitig auch Anfangen, immer wieder den Mut zu haben, es zu versuchen… hier kehren meine Gedanken zurück zu dem viele Jahre zuvor in die Welt hinausgesandten „Stunden-Buch“:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.


Ja – diese Gedanken sind herrlich und tröstlich und Grund genug, das Leben zu preisen, das Leben, diese „wunderliche Zeit“, von der Rilke einst schrieb:
Von allen großgewagten Existenzen,
kann eine glühender und kühner sein?


Lieben Gruß

stilz

P.S.: Die Vertonung kenne ich übrigens auch nicht.

Re: "Die Welt steht auf mit euch" Meinungen

Verfasst: 16. Okt 2009, 09:15
von Ralexand
*Thread rauskram*

Die Vertonung ist mit Otto Sander, ich kann diese nur empfehlen. Ist wirklich sehr schön gesprochen und auch die Musik ist gut. :)