Es winkt zu Fühlung

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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lilaloufan
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Es winkt zu Fühlung

Beitrag von lilaloufan »

Marie hat geschrieben:Some more explaining (rather than translating) ideas regarding to the first line "Es winkt zu Fühlung...":
- All things seem to invite the feeling
- An invitation to feel greets out of all things
"winkt" in a literal sense means to wave s.o.
"Fühlung" is translated by "contact, touch" which doesn't seem to be suitable in this case. I guess, Rilke ment it more emotional or intended to combine emotional and physical realization by using this term. It's something inbetween "feeling" and "touch":
- to be touched by the spirit of all things
- The spirit of all things gets distinctly
- Awareness is the task (the wish) of all those things
I hope my trial to indicate a direction for an accurate translation doesn't increase the confusion about the subject?! :shock:

Liebe Grüße M.
Das ist aus einem alten Thread (http://www.rilke.de/phpBB3/viewtopic.php?p=423#p423).

Mir fällt dabei auf: Ich fasse "Fühlung" immer als Subjekt auf; aus allen Dingen winkt sie. Hier im Forum wird sie als Dativobjekt aufgefasst, auch von dir, Marie. (Was wäre dann "es"?)

Die eine Lesart ist: Aus den Dingen winkt etwas (ein stimulus) hin zur "Fühlung" - der dann nur der emotionale response bliebe. Die andere (meine) Lesart: Uns winkt aus den Dingen her etwas zu, was bereits dort "Bild der Seelenwelt" ist (wie ein mir persönlich bekannter Biologe die Pflanzenphysiognomie einmal charakterisiert hat).

Die Menschenseele ist dabei nicht ein Zuschauer, dem irgendwie zugewinkt wird, sondern sie kann ganz aktiv das entsiegeln, was - gleichsam verzaubert - an "Fühlung" (Piaget würde von Animismus sprechen) in den Dingen ist.


Liege ich ganz daneben?

l.

[Hyperlink geändert am 1. Februar 2013]
Zuletzt geändert von lilaloufan am 1. Feb 2013, 19:22, insgesamt 1-mal geändert.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
stilz
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Beitrag von stilz »

Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen,
aus jeder Wendung weht es her: Gedenk!
Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen,
entschließt im künftigen sich zum Geschenk.

Wer rechnet unseren Ertrag? Wer trennt
uns von den alten, den vergangnen Jahren?
Was haben wir seit Anbeginn erfahren,
als daß sich eins im anderen erkennt?

Als daß an uns Gleichgültiges erwärmt?
O Haus, o Wiesenhang, o Abendlicht,
auf einmal bringst du's beinah zum Gesicht
und stehst an uns, umarmend und umarmt.

Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.

Ich sorge mich, und in mir steht das Haus.
Ich hüte mich, und in mir ist die Hut.
Geliebter, der ich wurde: an mir ruht
der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.




Wie schön, gerade jetzt an dieses Gedicht --- ich möchte fast sagen: gemahnt zu werden...

Und nein, lilaloufan, ich glaube nicht, daß Du "daneben" liegst... ich erkenne jedoch nicht ganz den Widerspruch zu Maries Auffassung.


Für mich ist, ebenso wie offenbar für Marie, "Fühlung" hier nicht Subjekt (und ich sehe auch nicht ganz, wie das grammatikalisch möglich sein sollte). Sondern Präpositionalobjekt (falls es dieses Wort geben sollte), Dativobjekt wäre mir hier zu ungenau.

Allerdings verstehe ich es nicht so, daß die Dinge oder eben "es" der "Fühlung" zuwinken, und wir dabei nur Beobachter sind... sondern "es" winkt uns, auffordernd, fast gebieterisch manchmal, auf daß wir unsere Seele diesen Dingen zuwenden und uns trauen, zu fühlen, was sie uns fühlen machen wollen... und damit zulassen, mit einzutauchen in den "Weltinnenraum"...

Oder so ähnlich, wieder mal steh ich vor dem Problem, daß ich das viel schlechter ausdrücken kann als Rilke!

Aber Marie hat es sehr gut ausgedrückt, finde ich:

An invitation to feel greets out of all things


Liebe Grüße!

stilz
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lilaloufan
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Bei fast jeder Kutschfahrt winkt die Queen ihrem Volke zu

Beitrag von lilaloufan »

Liebe Ingrid,
stilz hat geschrieben:Für mich ist, ebenso wie offenbar für Marie, "Fühlung" hier nicht Subjekt (und ich sehe auch nicht ganz, wie das grammatikalisch möglich sein sollte). Sondern Präpositionalobjekt (falls es dieses Wort geben sollte), Dativobjekt wäre mir hier zu ungenau.
gerade am Grammatischen möchte ich mich im Forum am wenigsten festbeißen (und am wenigsten Anlass zu darauf fokussierender Replik geben…); darum zunächst am Schulgrammatischen vorbei: Ich spreche zwischen „zu“ und „Fühlung“ eine fast negligeable Zäsur, keinen Schöpflöffel, sondern einen Probierlöffel voll Atem, als wollte dies sagen: „Ja, denkt einmal wer?? Na:“ – und die Antwort ist: „Fühlung“, aus dem vielen scheinbar „Gegenständlichen“ um uns her „Urständliches“, und zwar so intensiv und so freundlich winkt es, dass nicht mehr wie im Wissenschaftsprozess wir die Dinge prüfen, sondern nun die Dinge uns befragen, aber ohne uns zu „Gegenständen“ zu machen; sondern - durch uns durchgehend und dabei uns umbildend - beginnen sie in uns zu „urständen“ und heben damit den alten Gegensatz aller Ontologie auf - den zwischen Subjekt und Objekt -: denn den gibt es nur im Weltaußenraum - der immer voller Sehnsucht ist, durch unser Vermitteln Weltinnenraum zu werden ---> Siehe den Satz, der hier meine Signatur ist.

Dass bei dieser Auffassung die Antwort auf die Frage „Wer??“ wie immer Subjekt ist, ist dabei eigentlich die Nebensache; es diente nur dem Versuch, meine Lesart verständlich zu beschreiben, da ihr ja mein Lesen im stillen Kämmerlein nicht hört. Eigentlich ist es mehr eine künstlerische Erkenntnisfrage als eine grammatische.

Übrigens fand ich auch, dass die von dir herausgegriffene äußerst feinfühlig übersetzte Zeile von Marie meiner Ansicht am nächsten kommt.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
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Beitrag von stilz »

Inhaltlich sind wir also offenbar gar nicht so sehr uneins, sonst käme Marie Deiner Ansicht nicht so nahe!

Dennoch: ich brauche dazu keine auch noch so kleine Probierlöffel-Pause nach "zu". Für mich heißt das Verb in diesem Satz nicht "zuwinken", sondern "winken", mein winzigstes Innehalten wäre also, wenn überhaupt, dann vor "zu"!
Dieses "Winken" ist nicht bloß ein freundlicher Gruß, es hat eher etwas von "Heranwinken", ich kann jetzt leider keine ganz genaue Definition zitieren, aber meinem Gefühl nach ist im Wort "Winken" auch "einen Wink geben" drin, und eben in diesem Wink (der auch manchmal gebieterisch sein kann) sehe ich die Einladung, von der Marie gesprochen hat.

Ich tu mir schon ein bisserl schwer, die Grammatik einfach nicht zu beachten - gerade bei Rilke ist sie mir wichtig, denn ich glaube, er hat ganz genau das geschrieben, was er schreiben wollte, und hätte er sich eine - auch noch so kleine - Pause nach "zu" vorgestellt, hätte er das meiner Meinung nach durch ein Satzzeichen angezeigt.

Für mich bleibt also "Es" das Subjekt in diesem Satz, ebenso wie auch im nächsten, wenn es heißt

aus jeder Wendung weht es her: Gedenk!

Und "es" ist für mich wohl so etwas Ähnliches wie "Gott", ein Etwas, das im "Weltinnenraum" wohnt, also sowohl in uns, wenn wir es zulassen, als auch da draußen im von Rilke als "Offenes" Bezeichneten...
Und dieses "Göttliche" ist nicht gleichgültig, sondern hat eine Richtung, die wir "erfüllen" können (wenn wir sie wahrnehmen und nicht widerstreben)...

Und zum "Erfüllen" dieser "Richtung" wird uns die "Fühlung" als Instrument vorgeschlagen und angeboten...


Ich habe keine Ahnung, ob das alles verständlich ist... für mich scheint es viel klarer zu sein, so wie Rilke es gesagt hat.


Worüber ich noch ein bißchen nachdenken möchte, das sind die beiden letzten Zeilen:

Geliebter, der ich wurde: an mir ruht
der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.
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lilaloufan
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Fühlung oder Golddukaten

Beitrag von lilaloufan »

stilz hat geschrieben:…mein winzigstes Innehalten wäre also, wenn überhaupt, dann vor "zu"!
Und ich würde nach “zu“ vor allem daher Atem schöpfen, um geradezu zu betonen, dass es nicht als Präposition+Dativ aufgefasst werden soll. Das kann, bei derart invertierten Sätzen, natürlich kein Satzzeichen anzeigen. So ist bei mir die Fühlung Satzsubjekt – bei dir „es“ in einem pantheïstischen Sinne.
stilz hat geschrieben:Ich tu mir schon ein bisserl schwer, die Grammatik einfach nicht zu beachten
Da hast du mich wirklich nicht so differenziert verstanden wie ich’s meine. Ich will Grammatik hier nicht außer Kraft zu setzen versuchen, sondern sie mehr aus der Sprachgebärde als aus der formalen Abstraktion bestimmen, damit sie hier nicht zur Hauptsache wird. Ein Beispiel: „Es regnet herab Golddukaten fast aus allen Himmeln“ ist [wenn man nach den Golddukaten nicht wie nach einem Akkusativ fragt: Wen oder was?] ein konstruierter Satz mit ähnlicher, fast gleicher grammatischen Struktur wie: „Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen.“ Auch: „Es weht her ein „Gedenk!“ fast aus allen Wendungen“ wäre ein so strukturierter Satz. [Voraussetzung: Die Verben hießen „zuwinken“, „herabregnen“, „herwehen“.] Ließe man jeweils das die Inversion bedingende „Es“ weg [„Golddukaten regnen aus fast allen Himmeln herab“], verlöre jeder der beiden Sätze eine – ich will es mal nennen: magische Wirkung. Mein Innehalten dient zum einen dem Verstehen überhaupt, zum anderen dieser „Magie“: Probe: «„Gedenk!“ weht aus jeder Wendung her.»:roll:

Als Gegenstand einer wirklich nur grammatischen Analyse könnt’ mir das wurschtegal sein – wäre da nicht das Sinnverständnis. Und da staune ich gerade, dass du - obwohl du die Satzstruktur tatsächlich absolut gegensätzlich zu mir aufnimmst - das Gemeinte ganz ähnlich ansiehst wie ich. Nur – wie bringst du das fertig, wenn die Worte: „zu Fühlung“ bei dir zusammengehören? Das verstehe ich nicht.
RMR hat geschrieben:Geliebter, der ich wurde: an mir ruht
der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.
Das will ich nun gerne besinnen und durch die Nacht nehmen und melde mich noch.
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lilaloufan
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Beitrag von lilaloufan »

Guten Morgen,
stilz hat geschrieben:ein Etwas, das im "Weltinnenraum" wohnt, also sowohl in uns, wenn wir es zulassen, als auch da draußen im von Rilke als "Offenes" Bezeichneten...
Und dieses "Göttliche" ist nicht gleichgültig, sondern hat eine Richtung, die wir "erfüllen" können (wenn wir sie wahrnehmen und nicht widerstreben)...
Und zum "Erfüllen" dieser "Richtung" wird uns die "Fühlung" als Instrument vorgeschlagen und angeboten...
die Nacht, die so viel Erquickung versprach, da mich @stilz deine oben zitierten Zeilen, verdichtet zu einem kraftvollen: In mir ist Gott, sehr rasch tief einschlafen ließen, war nun nicht mehr als ein Haufen von Bruchstücken eines mürben Schlafs, zerhackstückt durch immer neue Störungen; erst die allnächtlichen Beinschmerzen unseres an Restless-Legs-Syndrom leidenden jüngsten Sohnes, dann das Krakeelen eines Bewohners übern Hof, später dann die ich weiß nicht ob Wehklage- oder Lustlaute eines brünftigen Katzengetiers und nochmal der strampelnde und vor Schmerzen schreiende Sohn, und gegen Morgen das Regenwasser, das aus einer verstopften Dachrinne überlief und von dort klatschend zu Boden prasselte, vor dem Hintergrundrauschen des Winds in den dieses Jahr ganz zerzausten Pappeln. Und je länger diese Nacht dauerte mit immer wieder Einschlafen und Herausgerissenwerden, desto deutlicher wurde mir, dass du @stilz wohl Recht hast mit deiner Deutung. Denn alle diese Ereignisse in den Zumutungen dieser Nacht schienen „den Wink zu geben“ zum empathein, zu jener Mit-Fühlungnahme, von der die sogenannte „Humanistische Psychologie“ seit Maslow und Rogers (vielfach phrasenhaft, aber philanthrop) spricht, Tuchfühlung im interessevollen Zusammenschluss mit allem, was ist und uns durch seine Daseinsäußerung angeht.

Im Grunde habe ich das gestern geahnt – und meine Sichtweise nur noch einmal erläutert, um sie verständlich zu machen, nicht um sie zu verteidigen oder auf ihr zu beharren.

Warum nur sagt das Gedicht „fast“ – was nimmt es aus? Wesen der technischen Sphäre, die Maschinen, vielleicht? Aber rufen - winken - nicht gerade diese Dienenden erst recht nach jener Fühlungnahme, diesem Fühlung-Geben, ihnen und ihren - im Goetheschen Sinne - Taten und Leiden entsprechend? Das bleibt mir rätselhaft.

Diese Interesse-Geste, von der mir, @stilz deinem Hinweis nach dieser Gedichtanfang spricht, dieses Eintauchen in den Weltinnenraum, hat ja Wirkung in die Seele hinein; man wird beschenkt durch das, dem man sich so einfühlend zuwendet: Man wird Geliebte(r).
  • Geliebter, der ich wurde: an mir ruht
    der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.
Dann kann der Granit, sonst zum Tragen der Gebirgsmassen selbstverpflichtet, in mir zum Bild geworden, loslassen. Auch Pappeln und Wind und Regen. Und das Katzenungeheuer. Wie der Behinderte mit seiner Unruhe. Und der Sohn mit seinen Schmerzen. Man schließt Frieden damit. Und erwacht, statt um den Schlaf zu kämpfen.

Danke, Ingrid, dass du mich daran erinnert hast!
Christoph
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stilz
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Beitrag von stilz »

Lieber Christoph,
Warum nur sagt das Gedicht „fast“ – was nimmt es aus?
Ich möche Dich als Antwort auf diese Frage an eine Stelle erinnern, die Du selber vor einiger Zeit zitiert hast, aus Rilkes Brief an Witold Hulewicz, 1925:


...das immer raschere Hinschwinden von so vielem Sichtbaren, das nicht mehr ersetzt werden wird. Noch für unsere Großeltern war ein „Haus“, ein „Brunnen“ [sic!], ein ihnen vertrauter Turm, ja ihr eigenes Kleid, ihr Mantel: unendlich mehr, unendlich vertraulicher; fast jedes Ding ein Gefäß, in dem sie Menschliches vorfanden und Menschliches hinzusparten. Nun drängen, von Amerika her, leere gleichgültige Dinge herüber, Schein-Dinge, Lebens-Attrappen… Ein Haus, im amerikanischen Verstande, ein amerikanischer Apfel oder eine dortige Rebe, hat nichts gemeinsam mit dem Haus, der Frucht, der Traube, in die Hoffnung und Nachdenklichkeit unserer Vorväter eingegangen war… Die belebten, die erlebten, die uns mitwissenden Dinge gehen zur Neige und können nicht mehr ersetzt werden. Wir sind vielleicht die Letzten, die noch solche Dinge gekannt haben. Auf uns ruht die Verantwortung, nicht allein ihr Andenken zu erhalten (das wäre wenig und unzuverlässig), sondern ihren humanen und larischen Wert.


Ich denke, diese "leeren Schein-Dinge" sind es, die Rilke mit seinem "fast" ausnehmen will.

Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, ob er damit "recht hat", ihnen wirklich unwiderruflich und für immer jeden "Larischen Wert" abzusprechen.
Denn liegt es nicht an uns, zu jeglichem Ding Menschliches hinzuzusparen, können wir nicht jederzeit damit anfangen?

Du zum Beispiel tust es, mit allen den "Dingen", die Dir in der letzten Nacht den Schlaf geraubt haben.
Und ist dieser Anfang einmal gemacht, wird in Zukunft auch das damit neu "belebte" Ding uns winken... zum Beispiel wirst Du mit Deiner schlafarmen Nacht ab nun in mir mit-auftauchen, sobald ich die nächste verstopfte Dachrinne erlebe... :wink:
Oder ich denke gerade auch an die technischen Dinge wie zB Handy oder Computer... seit ich mit ihrer Hilfe tausende sms und mails mit meinem geliebten und nun von mir gegangenen "Lebens-Menschen" getauscht habe, können sie für mich nie mehr leere Schein-Dinge sein, sondern sind im Gegenteil geradezu zu "Zauber-Dingen" mutiert...

Es grüßt Dich

Ingrid
Rita Rios
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Es winkt zu Fühlung fast

Beitrag von Rita Rios »

Hallo allerseits!

Gerade eingestiegen und schon habe ich eine Frage:
Ich würde gern wissen in welchem Band der Sämtlichen Werken
und auf welcher Seite dieses Gedicht steht. Ich denke es muss
im II. Bd. sein.
Meine Ausgabe ist gerade auf einem Schiff...

Danke!
Rita
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Re: Es winkt zu Fühlung

Beitrag von lilaloufan »

Ja Rita,

Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke, Band Ⅱ, herausgegeben von Ruth Sieber-Rilke und Ernst Zinn im Auftrag des Rilke-Archivs (Gedichte, zweiter Teil), Insel-Verlag 1963, p. 92 f. (in älteren Ausgaben p. 113)

l.


Dein Schiff ist wahrscheinlich längst im Hafen angekommen………
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Re:

Beitrag von lilaloufan »

stilz hat geschrieben:Und ist dieser Anfang einmal gemacht, wird in Zukunft auch das damit neu "belebte" Ding uns winken...
Liebe Ingrid,

gerade stolpere ich in Goethes «Selige Sehnsucht» (West-Östlicher Divan) über seinen Gebrauch des Wortes „Fühlung“:
  • Selige Sehnsucht

    Sagt es niemand, nur den Weisen,
    Weil die Menge gleich verhöhnet:
    Das Lebendige will ich preisen,
    Das nach Flammentod sich sehnet.

    In der Liebesnächte Kühlung,
    Die dich zeugte, wo du zeugtest,
    Überfällt dich fremde Fühlung,
    Wenn die stille Kerze leuchtet.

    Nicht mehr bleibest du umfangen
    In der Finsternis Beschattung,
    Und dich reißet neu Verlangen
    Auf zu höherer Begattung.

    Keine Ferne macht dich schwierig,
    Kommst geflogen und gebannt,
    Und zuletzt, des Lichts begierig,
    Bist du Schmetterling verbrannt.

    Und so lang du das nicht hast,
    Dieses: Stirb und werde!
    Bist du nur ein trüber Gast
    Auf der dunklen Erde.
Ist mit diesem Stirb und Werde! einmal ein Anfang gemacht, wird das Lebendige uns immer vertrauter (unfremd) werden, nicht wie bisher vornehmlich das, was diesem Lebendigen in „Dingen“ Form gibt.

Grüße in die Runde,
Christoph
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Re: Es winkt zu Fühlung

Beitrag von lilaloufan »

Ihr Lieben, ich hab’ mal bei Grimm nachgesehen:
  • Fühlung:
    1) die Handlung des prüfenden Greifens, des prüfenden Berührens, das prüfende Greifen, die prüfende Berührung, ATTRECTATIO, TACTUS
    2) die Wahrnehmung durch Wirkung auf einen Körperteil oder auf den Körper
    3) die Empfänglichkeit für sinnliche oder geistige Eindrücke, die Wahrnehmung durch sinnliche oder geistige Erregung, das Gefühl, SENSUS
    4) in der Fechtkunst das leise Anlegen der Klinge an die des Gegners
    5) in der Kriegskunstsprache das leise Gefühl, das der im Gliede stehende Soldat mit dem Ellenbogen an seinem Nebenmanne nach der Seite hin hat, nach welcher die Richtung ist
    6) ebenfalls in der Kriegskunstsprache bei zwei feindlichen Parteien, wenn eine stets so nahe bei der andern bleibt, dass sie dieselbe nicht aus den Augen verliert
Geht man in beiden Gedichten von der Bedeutung № 3 aus, dann ist doch erstaunlich, wie nah Goethes „Stirb und Werde“ Rilkes Suche nach Verwandlung in „Weltinnenraum“ – der tätigen (cf.: „drängender Auftrag“) Metamorphose zum Geistigen hin – bereits kommt.

l.
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Re: Es winkt zu Fühlung

Beitrag von lilaloufan »

P.S.: Genauer, was ich meine: Bedeutung № 1, aber „Tasten“, (Be-)„Greifen“, Berühren nicht mit einer dem Leib verhafteten Sinnlichkeit, sondern mit deren Verwandlung in einen das »Offene« wahrnehmenden Sinn, wie auch immer man dies begrifflich zu fassen versucht.

Die Perspektive im Deutschen Idealismus fasse ich so auf: Durch solche Fühlung-Nahme wird der „ungesell'ge Wilde“ zum sittlichen, sich auf sich selbst besinnenden Menschen.

Rilkes Perspektive so: Nach solcher Fühlung-Nahme ruft die Schöpfung, verfehlte ansonsten ihren „Sinn“, ihr „wahres Ziel“.

Mir geht es um den Atem zwischen beiden Fühlung-Nahme-Gesten: Er verbindet die nur scheinbar gegensätzlichen Wesensannäherungen zur Einheit; Angelpunkt solchen Pendelschlags ist das sich entwickelnde Ideal, Impulsgeber das liebende Interesse.

Muss ich ausdrücklich sagen, dass ich in diesem Frühling meine heiß verteidigte Ansicht vom August 2006 in diesem Thread revidiere? Sie war nicht unsinnig, und es bleibt spannend, sie kritisch zu durchdenken — aber sie war irrig.

Christoph
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