Hallo Tonika,
Du sagst, bei Rilke stehe das „Du“ als Partner im Mittelpunkt; ja, und dieses Du sprechen diese lyrischen Zeilen an als das, was im Kindergebet das Du ist, der Schöpfergott sozusagen, das, von dem alle Herkunft, alle Abstammung herkommt, von dem der Strom der Generationenfolgen ausgeht, und von dem das Ich „Teil allen Lebens und Entstehens“
ist, wie du wohl meinst – ich würde eher sagen: durch Selbstverwandlung
werden kann. Und wie das Kind in allem Lebenden und Entstehenden wie einen Siegelabdruck dieses Vater-Göttlichen erahnt und von der Voraussetzung ausgeht, alles Werk, alle Erscheinung, sei „gut“ als Teil von Gottvaters All-Güte („
Lieber Gott!“), so liebt auch der (frühe) Rilke [
muss ich mir abquälen, hier präzise zu schreiben: ‚Rilkes frühes lyrisches Ich’; ihr wisst’s doch!] diese Herkunft seiner irdischen Existenz mehr als jene Bewusstseins-Flamme, die wie läuterndes Feuer von allem Erfassten nur das Taugliche übriglässt und die Fülle der Erscheinungen auf das begrifflich Benennbare, Erklärbare reduzieren will, das Gesetzen gehorcht und in Systeme sich fügt. Seine Beziehung zu dem aus dem Okkulten, Dunklen, Bild- und Namenlosen heraus wirkenden Gott widersetzt sich damit allem Intellektualisieren. Es ist eine
Keimbeziehung, so fasst du es ja auch auf. Flamme
wärmt.
Nietzsche dagegen
blüht ins
Licht; bei ihm ist das, was hier nur „ich“ und gar nicht „du“ sagt, weniger auf seine gestaltmäßig
naturhafte, sondern auf seine unsterblich
ideelle Herkunft bezogen und kann sich aus dieser Sicherheit heraus „verzehren“ im lodernden geistigen Enthusiasmus. Der späte Rilke, der der letzten Elegien, findet sich da auch. Muss das, wie du schreibst, „schlussendlich vernichtend“ ausgehen?
Nietzsche hat geschrieben:Aber wie finden wir uns selbst wieder? Wie kann sich der Mensch kennen? Er ist eine dunkle und verhüllte Sache; und wenn der Hase sieben Häute hat, so kann der Mensch sich sieben Mal siebzig abzieh’n und wird doch nicht sagen können: "das bist du nun wirklich, das ist nicht mehr Schale." Zudem ist es ein quälerisches gefährliches Beginnen, sich selbst derartig anzugraben und in den Schacht seines Wesens auf dem nächsten Wege gewaltsam hinabzusteigen. Wie leicht beschädigt er sich dabei so, dass kein Arzt ihn heilen kann. Und überdies: wozu wäre es nöthig, wenn doch Alles Zeugnis von unserm Wesen ablegt, unsre Freund- und Feindschaften, unser Blick und Händedruck, unser Gedächtnis und das, was wir vergessen, unsre Bücher und die Züge unsrer Feder. Um aber das wichtigste Verhör zu veranstalten, giebt es dies Mittel. Die junge Seele sehe auf das Leben zurück mit der Frage: was hast du bis jetzt wahrhaft geliebt, was hat deine Seele hinangezogen, was hat sie beherrscht und zugleich beglückt? Stelle dir die Reihe dieser verehrten Gegenstände vor dir auf, und vielleicht ergeben sie dir, durch ihr Wesen und ihre Folge, ein Gesetz, das Grundgesetz deines eigentlichen Selbst. Vergleiche diese Gegenstände, sieh, wie einer den andern ergänzt, erweitert, überbietet, verklärt, wie sie eine Stufenleiter bilden, auf welcher du bis jetzt zu dir selbst hingeklettert bist; denn dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern unermesslich hoch über dir oder wenigstens über dem, was du gewöhnlich als dein Ich nimmst. Deine wahren Erzieher und Bildner verrathen dir, was der wahre Ursinn und Grundstoff deines Wesens ist, etwas durchaus Unerziehbares und Unbildbares, aber jedenfalls schwer Zugängliches, Gebundenes, Gelähmtes: deine Erzieher vermögen nichts zu sein als deine Befreier. Und das ist das Geheimnis aller Bildung: sie verleiht nicht künstliche Gliedmaßen, wächserne Nasen, bebrillte Augen, - vielmehr ist das, was diese Gaben zu geben vermöchte, nur das Afterbild der Erziehung. Sondern Befreiung ist sie, Wegräumung alles Unkrauts, Schuttwerks, Gewürms, das die zarten Keime der Pflanzen antasten will, Ausströmung von Licht und Wärme, liebevolles Niederrauschen nächtlichen Regens, sie ist Nachahmung und Anbetung der Natur, wo diese mütterlich und barmherzig gesinnt ist, sie ist Vollendung der Natur, wenn sie ihren grausamen und unbarmherzigen Anfällen vorbeugt und sie zum Guten wendet, wenn sie über die Äußerungen ihrer stiefmütterlichen Gesinnung und ihres traurigen Unverstandes einen Schleier deckt.
- Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße BetrachtungenIII
Das war gewissermaßen ein Versuch, eine Kadenz zu beginnen, eine Subdominante sozusagen. Danke @
Tonika für den ersten Akkord!
Christoph