An die Musik - genauer Wortlaut?

Rilke-Texte gesucht und gefunden

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Gwendolina
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An die Musik - genauer Wortlaut?

Beitrag von Gwendolina »

Liebe Rilke-Experten,

kann mir jemand weiterhelfen? Ich suche den exakten Wortlaut des Gedichtes: "An die Musik".

Erst las ich irgendwo: ... auf der Lichtung vergehender Herzen ... was mir schlüssig schien, dann hörte ich
bei youtube https://www.youtube.com/watch?v=1gJBWiOkxIQ ... auf der Richtung vergehender Herzen,
ein Kommentator schrieb dann diese Version (Ri...) auch noch darunter - und nun wüsste ich gern,
was der Dichter ursprünglich schrieb und außerdem: ob Entstehungszeit/-Ort: 11./12.01.1918, München
stimmen.

Dies ist mein Einstands-Posting,
freundliche Grüße an alle,
Gwen
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lilaloufan
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Re: An die Musik - genauer Wortlaut?

Beitrag von lilaloufan »

Liebe Gwendolina,

erst mal herzlich willkommen in unserer in eine Art Ruhestand geratenen Runde!

Die Experten unter uns sind derzeit gewiss auf Urlaubsreisen; deswegen antworte ich, der ich immerhin ein Buch besitze aus Expertenfeder: die Rilke-Chronik.

Da steht — und was da steht, darf als zuverlässig gelten: „11./12. JANUAR [MÜNCHEN 1918]: R. schreibt als Zueignung das Gedicht »An die Musik. Musik: Atem der Statuen …« in das Gästebuch von Frau Hanna Wolff anlässlich eines Hauskonzertes.“

Du findest das Gedicht in Bd. Ⅱ der Gesammelten Werke auf Seite 111 (und hier bei uns):
  • AN DIE MUSIK

    Musik: Atem der Statuen.
    ______Vielleicht:
    Stille der Bilder.
    ___Du Sprache wo Sprachen
    enden.
    ___Du Zeit,
    die senkrecht steht auf der Richtung

    _______________vergehender Herzen.

    Gefühle zu wem? O du der Gefühle
    Wandlung in was? –: in hörbare Landschaft.
    Du Fremde: Musik. Du uns entwachsener
    Herzraum. Innigstes unser,
    das, uns übersteigend, hinausdrängt, —
    heiliger Abschied:
    da uns das Innre umsteht
    als geübteste Ferne, als andre
    Seite der Luft:
    rein,
    riesig,
    nicht mehr bewohnbar.
Otto Betz schrieb dazu:„Auffällig bei diesen Versen ist, dass das musikalische Phänomen mit Bildern optischer Wahrnehmung beschrieben wird. Statuen beginnen zu atmen, das Gesetz der vergehenden Zeit wird aufgehoben, eine Landschaft kann horchend erspürt werden, die Musik wird in ihrer Nähe und in ihrer Fremdheit erlebt. Stark betont wird der Gedanke, dass Musik über die anderen Formen der Mitteilung hinausdrängt. Wo die konventionelle Sprache ans Ende ihrer Möglichkeiten kommt, da führt die Musik weiter. Sie ist ein Grenzphänomen, ihr scheint ein Wandlungselement innezuwohnen, wenn man sich ihrer Dynamik aussetzt. Das Herz weitet sich und schafft sich neue Räume, die bisher nur geahnt werden konnten. Es scheint ein Weg in unvertraute Bereiche zu sein, die von uns (noch) nicht bewohnbar sind.“

Über Hanna Wolff (Gattin des Bankdirektors Alfred Wolff in München) weiß die Chronik wenig (z. B. leider nicht, wer bei ihr an jenem Hauskonzert musiziert hat und welche Musik gespielt wurde). Rilke hatte drei Jahre zuvor eine Einladung ins Haus Wolff einigermaßen rigoros ausgeschlagen. Damals waren dort Ottonie Gräfin Degenfeld und ihre Schwägerin Dora Freifrau von Bodenhausen mit eingeladen gewesen – von der Erstgenannten (Schloss Neubeuern am Inn) hatte R. im Jahre 1911 auf Vermittlung von Hugo von Hofmannsthal eine Förderung erhalten.

Grüße,

lilaloufan
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
Gwendolina
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Re: An die Musik - genauer Wortlaut?

Beitrag von Gwendolina »

Liebe/r lilaloufan,

vielen herzlichen Dank, auch für den Ur-Zeilenfall. Wenn ich sagen würde, dies sei mehr, als ich erwarten durfte, wäre das glatt gelogen; nachdem ich gestern auch nur einige Zeit querlas im Forum, war mir klar, dass die Anrede "Liebe Rilke-Experten" keinesfalls geschmeichelt ist ... Ich freu mich einfach, Gehör gefunden und prompt und schnell Antwort bekommen zu haben.

Da ich das Gedicht - bis auf die Klärung der Frage, ob Richtung oder Lichtung - gut kenne, mutete allerdings der Versuch einer analytischen Erklärung - vielleicht kann es mehr nicht sein - von Otto Betz etwas seltsam an und verbessert für meine Begriffe nicht das Verständnis oder Verstehen (sorry). Ist es nicht eher, wie mit jeder anderen Kunst auch: sie ist/hat/bleibt ihr eigenes Ausdrucksmittel und ist mit (anderen) Worten nicht zu erklären oder erklärbar. Wer sie nicht versteht, dem hilft auch die gutgemeinte "Erklärung" nicht. ?? ... Habe ich in Ihrem Forum ein Goethezitat gelesen?: (sinngemäß) Erspüre es oder fühle es; erjagen kannst du es nicht! Dies scheint am besten zu treffen, was ich sagen möchte: Das ganze Rilke-Gedicht liegt klar und VERSTANDEN vor mir. Eine kristallklare Lobpreisung an der Menschen höchstes Gut, was das Auditive betrifft - mit direktem Zugang zu Hirn, Bauch und Herz - bewohnbar.

Grüße, G.
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lilaloufan
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Re: An die Musik - genauer Wortlaut?

Beitrag von lilaloufan »

Ja Gwendolina, stilz war's, 2009 :!: , die mir mit diesem Faust-Zitat geantwortet hat, hier in Posting 10414.
Über die Problematik von „Interpretation“ (und darüber, wiewenig Rilke selbst vom Interpretieren hielt) haben wir hier auch schon etliche spannende Gespräche geführt – auch über hermeneutische Zugänge und „Zerpflücke eine Rose, und ein jedes Blatt ist schön“. — An einen Beitrag erinnere ich mich besonders gut:
stilz in [url=http://rilke.de/phpBB3/viewtopic.php?p=6920#p6920]Posting #6920[/url] hat geschrieben:Es gibt doch auch so etwas wie ein "Hineininterpretieren" von Sachen, die der Autor nicht hineinschreiben wollte, und die auch gar nicht "drin" sind, und die jemand nur deshalb dennoch zu finden meint, weil er selber grad in einer Situation ist, in der er bestimmte Dinge einfach überall "sieht"...

Ich fände es sehr schwierig, da die Grenze zu erkennen, und möchte deshalb doch lieber versuchen, herauszufinden, was der Autor selber gemeint hat.
Jedenfalls dann, wenn es sich um ein Kunstwerk handelt!
Das heißt für mich in diesem Fall: den Text in dem Zusammenhang lesen, in den Rilke ihn gestellt hat, und nicht für sich allein.

Vielleicht ist es wirklich ein "Nebengleis", wie Du, lilaloufan, meinst...

Aber es ist eines, das mir persönlich viel bedeutet: denn ich denke dabei auch an Regisseure, die zB eine Mozartoper inszenieren, und was dabei herauskommt, mag eine interessante Geschichte sein, und auch einigen künstlerischen Wert haben, aaaaaaaaber: mit dem ursprünglichen Kunstwerk hat es nicht mehr viel zu tun!
Ich fände es in solchen Fällen richtiger und ehrlicher, wenn ein Regisseur sagt, ich hab mich von dieser Oper (und vielem anderen) inspirieren lassen und ein ganz neues Stück geschrieben.

Schließlich bedeutet interpretari , soviel ich weiß, "übersetzen" und nicht "was Neues erfinden"!

Oder meint Ihr, "Interpretation" solle bedeuten, daß man sich so weit vom Text lösen kann, wie es einem gerade paßt, und einfach allen Assoziationen freien Lauf lassen?

Ich muß schon sagen, dann eignet sich "Interpretation" aber sehr schlecht dafür, als Schulaufgabe bewertet zu werden!



Und es wird mir immer verständlicher, daß es gerade in diesem "Offenen" (so Rilkes Ausdruck dafür) von Mensch zu Mensch ganz unterschiedliche "Für-Wahr-Nehmungen" gibt, was auch der Grund dafür sein mag, daß es so viele verschiedene Auffassungen gibt, was denn eigentlich "drin" ist in einem Gedicht...
Es wär' schön, mit Deiner Hilfe hier an diese Thematik anzuknüpfen.

Grüße,
Christoph
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Gwendolina
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Re: An die Musik - genauer Wortlaut?

Beitrag von Gwendolina »

Bin zum Fortsetzungsauftakt in einen anderen Themenraum gewandert ... http://www.rilke.de/phpBB3/viewtopic.ph ... 838#p16838

Gwendolina
camillo
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Re: An die Musik - genauer Wortlaut?

Beitrag von camillo »

"auf der Lichtung vergehender Herzen" - das ist schön!
reden ist schweigen - Silber ist Gold
stilz
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Re: An die Musik - genauer Wortlaut?

Beitrag von stilz »

Liebe Gwendolina,

etwas verspätet auch von mir ein herzliches Willkommen hier im Forum!

Ich habe Euer Gespräch zu Rilkes Gedicht »An die Musik« schon vor längerer Zeit gelesen, komme aber erst jetzt dazu, meine Gedanken dazu zu formulieren.

Ich teile ja Deine Skepsis in Bezug auf Analysen poetischer Texte von Literaturwissenschaftlern – nur allzuoft wird da etwas auseinandergenommen, und beim Zusammensetzen muß man leider erkennen, daß das Wichtigste dabei verlorengegangen ist (wie sagt Mephisto so schön: »Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben, /Sucht erst den Geist heraus zu treiben, /Dann hat er die Teile in seiner Hand, /Fehlt leider! nur das geistige Band.«…)
Ich denke dann immer mit Vergnügen an Christian Morgenstern, der seinen „Galgenliedern“ gleich die passende literaturwissenschaftliche Betrachtung des Herrn »Jeremias Müller, Lic. Dr.« voranstellte (Versuch einer Einleitung). :D

Aber nun beschäftigt mich etwas:
Im Gegensatz zu Otto Betz, dem Rilke in diesem Gedicht auf einen »Weg in unvertraute Bereiche« zu deuten scheint, »die von uns (noch) nicht bewohnbar sind«, siehst Du darin eine »kristallklare Lobpreisung an der Menschen höchstes Gut, was das Auditive betrifft - mit direktem Zugang zu Hirn, Bauch und Herz - bewohnbar.
Allerdings: im Gegensatz sowohl zu Otto Betz als auch zu Dir spricht Rilke von »nicht mehr bewohnbar«

Auch ich kenne dieses Gedicht seit langem.
Obendrein bin ich Sängerin - und gerade dieses »nicht mehr Bewohnbare« der »anderen Seite der Luft« bedeutet mir sehr viel.

Wir sind es ja heute gewohnt, mit Musik so umzugehen, als wäre sie ein Gegenstand, über den wir nach Gutdünken verfügen könnten.
Das ist aber eine Täuschung.
Schon wenn ein Komponist seine Inspiration in aufschreibbare Zeichen faßt und damit gewissermaßen „tötet“, um anderen zu ermöglichen, sie wieder zum Leben zu erwecken, wird sie zu etwas anderem – die Verantwortung dafür, sie „in die Welt zu bringen“, liegt nun nicht mehr bei ihm allein, sondern er vertraut sie „reproduzierenden Künstlern“ an. So wird sie zwar aufführbar, interpretierbar, aber damit auch verfälschbar, im schlechtesten Fall sogar vollkommen mißverstehbar...
Und wenn ein Musiker ein Musikstück zum Erklingen bringt, so beginnt es noch im selben Augenblick zu verklingen, unwiederbringlich – das „Festhalten“ auf diversen Tonträgern hat Rilke zwar fasziniert, aber Musik läßt sich auch heute noch niemals wirklich vollständig festhalten (jeder, der einmal ein Konzert live miterlebt und sich danach den Mitschnitt angehört hat, wird das wohl bestätigen).

Wenn Musik, die einmal, uns übersteigend, hinausgedrängt hat, für uns dennoch bewohnbar bliebe – wozu dann ein heiliger Abschied?

- - -

Was mich an diesem Gedicht besonders berührt, ist die Wendung, nach der Du gefragt hast:

_________Du Zeit,
die senkrecht steht auf der Richtung

_______________vergehender Herzen.

Und ich war fast ein wenig erschrocken, als ich las, daß auch die Version mit „Lichtung“ kursiert… und dann wieder beruhigt, als sich diese Version als Fehler herausgestellt hatte.

Natürlich begreife ich, warum Du, camillo, findest, »auf der Lichtung vergehender Herzen« sei schön.
Ja.
Die Lichtung vergehender Herzen, auf der Musik „steht“, oder vielleicht sogar auch wächst… ein wunderschönes Bild.

Aber es ist nunmal nicht Rilkes Bild.
Sondern Musik ist für ihn Zeit, die nicht (wie unsere übliche Zeit, mit der zu „rechnen“ wir gewohnt sind) dieselbe Richtung nimmt wie unsere „vergehenden Herzen“, sondern die zu dieser Richtung senkrecht steht.

Ich wäre niemals auf den Gedanken gekommen, es so auszudrücken - aber dieses Bild sagt mir etwas, für das ich tatsächlich keine anderen Worte finde.

Um auf Dein, Gwendolina, Cusanus-Zitat hier zurückzukommen: ich weiß es wohl nicht so, wie es wißbar ist. Aber tief in meinem Herzen weiß ich es. Und ich empfinde eine tiefe Freude darüber, daß auch Rilke es wußte.

Herzlichen Gruß,
stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Gwendolina
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Re: An die Musik - genauer Wortlaut?

Beitrag von Gwendolina »

Liebe stilz,

vielen Dank für Deine nochmalige Bezugnahme auf das Thema und das herzliche Willkommen. Zunächst muss ich wohl schnell ein Missverständnis klären; nicht jeder, den das Gedicht ebenfalls anspricht, hat den Bezug dazu durch seine ureigenste Berufung bzw. seinen Beruf - ..., und manchmal erklärt sich Nähe auch anders... oder ganz ähnlich. Dennoch hoffe ich, kann jedem ein kleiner "Anspruch" zugestanden werden. :wink: Dies zum einen, zum anderen rennst Du, liebe stilz, geradezu offene Türen ein, wenn ich Dich richtig verstanden habe: Nie würde ich wagen, dem verehrten Rilke quasi das Wort - sozusagen im Mund herum - zu drehen. Sein "nicht mehr bewohnbar" meint die Musik; "bewohnbar" - da ich das Bild nun mal aufgriff - meint das Gedicht - im Sinne von "verstehen", "nachvollziehen können", oder wie wir heute zu sagen pflegen: "bei ihm zu sein", was die Seh- und/oder Denkweise betrifft (oder dies zumindest - für einen kurzen Augenblick - zu meinen). Auch "direkter Zugang zu Hirn, auch und Herz" bezogen sich (nur) auf die Lobpreisung, wie ich sein Gedicht nannte.

Kannst du mir verzeihen? Herzlich habe ich mal wieder - Deinem Gedanken und dem Link folgend - über die Galgenlieder gelacht. (naja: einige, die ich LAUT las)

Zum Thema: Inspiration des Künstlers (oder Urhebers) und späteren Interpretationen durch andere - das betrifft ja neben der Musik noch andere Künste/Fächer - will ich gerne noch länger nachdenken und komme wieder.

herzliche Grüße,
Gwendolina
Gwendolina
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Re: An die Musik - genauer Wortlaut?

Beitrag von Gwendolina »

Liebe stilz,

mit den oben formulierten Gedanken bin ich gestern ins Bett gegangen. Was ist passiert? Ich fand mich zusammen mit Otto B. in (D)einer Schublade - und wir hatten uns nichts zu sagen. Jeder hockte in seiner äußersten Ecke, zwischen uns die lange Diagonale ... Ich war frustriert und hatte nicht mal Lust, von ihm eine Erklärung einzufordern für seinen Satz: "... (noch) nicht bewohnbar", der mich immerhin seeehr aufregte, als ich ihn das erste mal las.

Grüße, G.
stilz
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Re: An die Musik - genauer Wortlaut?

Beitrag von stilz »

Liebe Gwendolina,

:lol:
Vorweg:
Also, erstens hab ich Dir nicht das Allergeringste zu verzeihen. Wie kommst Du darauf?
Und zweitens baue ich keine Schubladen. Wirklich nicht.

Die Gemeinsamkeit zwischen Dir, Otto Betz und Rilke ist für mich, daß Ihr alle drei das Wort „bewohnbar“ gebraucht habt.
Die Gemeinsamkeit zwischen Dir und Otto Betz ist, daß Ihr Euch dabei alle beide auf Rilke bezogen habt, jede(r) auf seine/ihre Weise (wobei Du Dich wohl auch noch auf Otto Betz bezogen hast...).
Damit hat es sich auch schon, für mich jedenfalls, die ich weder Dich noch Otto Betz genug kenne, um weitere Gemeinsamkeiten feststellen zu können.
(@ lilaloufan: um welchen Otto Betz handelt es sich eigentlich?)

Aber weißt Du: ich finde es wirklich sehr interessant, wie Ihr drei dieses Wort gebraucht.
Und damit komme ich zu den Unterschieden:
Daß Du Dich auf das Gedicht beziehst, Rilke hingegen auf die Musik, spielt für mich ( :wink: verzeih, bitte!) keine große Rolle: denn haben Musik und Poesie es nicht gemeinsam, daß sie über eine Information hinausgehen, die verstanden werden, also: allein mithilfe des Verstandes „bewohnt“ werden kann? Du selbst deutest das ja an, wenn Du von „Hirn, Bauch und Herz“ sprichst...

Rilke spricht von der Musik, die aus uns hinausdrängt - von etwas also, das zunächst in uns ist. Und in einer Umstülpung zwischen innen und außen sieht er dieses „Etwas“, solange es in uns drinnen ist, als für uns bewohnbar an. Erst indem wir es aus uns heraussetzen, wird es für uns nicht mehr bewohnbar...

Du hingegen sprichst von einem konkreten Gedicht, das früher der Herzraum eines anderen war, ihm aber nun entwachsen ist, ihn überstiegen, aus ihm hinausgedrängt hat, das nun seinen direkten Zugang findet zu Deinem Hirn, Bauch und Herz - und dadurch für Dich bewohnbar wird.
Und würde das nicht auch für jedes Musikstück gelten, das Du so gut kennst, daß Du Dich darin „zu Hause“ fühlst?
Wobei es natürlich eine Rolle spielt, welche Entwicklung Dein Hirn, Bauch und Herz bisher genommen haben: einem anderen ist dieses konkrete Gedicht oder Musikstück vielleicht nicht so direkt zugänglich...

Otto Betz aber blickt gewissermaßen auf das Geschehen „dazwischen“, und wieder allgemeiner, also nicht auf ein einzelnes konkretes Gedicht oder Musikstück bezogen:
»Das Herz weitet sich und schafft sich neue Räume, die bisher nur geahnt werden konnten. Es scheint ein Weg in unvertraute Bereiche zu sein, die von uns (noch) nicht bewohnbar sind.«

nicht mehr bewohnbar - noch nicht bewohnbar - bewohnbar...
Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft...

Wenn man sich vor Augen hält, daß der Mensch sich entwickelt, jeder einzelne, und auch die gesamte Menschheit - - - können dann nicht alle drei Aussagen „richtig“ sein, ohne einander zu widersprechen ( :wink: und ohne daß sich die eine über die anderen aufregen müßte...)?

Herzlichen Gruß,
stilz

P.S.: :D Ich möchte noch hinzufügen, daß ich mich seeehr freue, mit Dir ins Gespräch gekommen zu sein.
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Gwendolina
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Re: An die Musik - genauer Wortlaut?

Beitrag von Gwendolina »

O je, dann hätten wir das ja geklärt ...


Du sagst: "Rilke spricht von der Musik, die aus uns hinausdrängt - von etwas also, das zunächst in uns ist. Und in einer Umstülpung zwischen innen und außen sieht er dieses „Etwas“, solange es in uns drinnen ist, als für uns bewohnbar an. Erst indem wir es aus uns heraussetzen, wird es für uns nicht mehr bewohnbar..."

Doch würde ich dieser Interpretation nicht ganz folgen und das sprachliche Bild bewohnbar/nicht mehr bewohnbar weit gefasster sehen wollen, weniger real, technisch oder meinetwegen quantifizierbar (also weniger quantifizierbar). Die Musik - letztlich geht es ja um sie - darf ein Wunder bleiben, dessen sich die Menscheit nun schon so lange freuen darf.
Tatsächlich, und das weißt Du als Sängerin ja am besten, ist es doch so, dass in Sachen Musik, Malerei und überhaupt jedweder künstlerischer Äußerung - gerade nichts Fertiges in uns drin ist, was nur herausgelassen zu werden braucht, nichts, was wir erst "bewohnen" (genaugenommen bewohnt es ja uns) und uns dann für immer verlässt. Dieses ETWAS, was hinausdrängt, sucht sich ein Mittel - die Ausdrucksform - und nimmt seine Form - seine genaue Ausfertigung - erst beim Übergang an. Und wir stehen - manchmal staunend, manchmal überrascht, manchmal beglückt daneben. Und bewohnbar im Sinne von begreifbar, sichtbar, hörbar ... wird es doch erst dann. (auch aus dieser Perspektive erschloss sich mir dieses (noch) nicht bewohnbar nicht.) Natürlich müssen wir unterscheiden zwischen dem spontanen, naiven, was herausgebracht wird, zwischen mehr oder weniger Talent und dem erlernten, perfektionierten Handwerk, das sein übriges dazu tut, wiederholt und/oder interpretiert. Aber dies sei hier mal außer acht gelassen.

Wenn R. es SO gemeint hat, wie Du schreibst, ist oder wäre es ja die reine unbestaunte Feststellung einer Tatsache. Deshalb würde ich persönlich einer anderen Betrachtung den Vorzug geben wollen: Ich finde, nicht mehr bewohnbar ist ein sehr schönes Bild, das in seiner gebündelten Aussage mitten ins Herz trifft (die Rilkesche Art, mitten ins Herz zu treffen), denn wir Leser des Gedichtes lassen (ja) nur die göttlichste Auslegung zu (eine Messiewohnung ist schließlich auch "nicht mehr bewohnbar") ... so und hier mache ich einen Punkt. Mephisto lässt grüßen.

Ich glaube, wir sind uns einig. Dieses "Bühnengespräch" hat ja auch noch eine zusätzliche Komponente ... :D

herzliche Grüße
G.
stilz
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Re: An die Musik - genauer Wortlaut?

Beitrag von stilz »

Liebe Gwendolina,

ich bin ja ganz einig mit Dir,
<i>»dass in Sachen Musik, Malerei und überhaupt jedweder künstlerischer Äußerung - gerade nichts Fertiges in uns drin ist, was nur herausgelassen zu werden braucht, nichts, was wir erst "bewohnen" (genaugenommen bewohnt es ja uns) und uns dann für immer verlässt. Dieses ETWAS, was hinausdrängt, sucht sich ein Mittel - die Ausdrucksform - und nimmt seine Form - seine genaue Ausfertigung - erst beim Übergang an.«</i>

Aber ich habe nicht den Eindruck, daß Rilke in seinem Gedicht davon spricht.
Es scheint mir hier nicht um das konkrete „Kunstwerk Musik“ zu gehen, das auch meiner Ansicht nach aus einer Art Symbiose zwischen „Form und Stoff“ entsteht und nicht vorher schon fertig in uns lebt (obwohl, wenn ich an das „Geschriebenwerden“ denke, das „Diktat“ der „Duineser Elegien“ ... aber darum geht es hier ja nicht. Oder doch?).

Sondern Rilke spricht vom eigenen Inneren, das uns umsteht und nicht mehr bewohnbar ist:

da uns das Innre umsteht
als geübteste Ferne, als andre
Seite der Luft:
rein,
riesig,
nicht mehr bewohnbar.


Du sagst:
<i>»Ich finde, nicht mehr bewohnbar ist ein sehr schönes Bild, das in seiner gebündelten Aussage mitten ins Herz trifft«</i>
und hinterläßt mich nun - trotz aller Einigkeit - etwas ratlos, denn ich kann nach alledem nicht erkennen, von welcher „gebündelten Aussage“ Du eigentlich sprichst...

Und nochmal herzlich gegrüßt,
stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
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Re: An die Musik - genauer Wortlaut?

Beitrag von Gwendolina »

Liebe stilz,
Ich kenne nicht Rs. Verfassung in der Stunde des Dichtens. Schrieb er es unmittelbar und jungfräulich gleich nach oder während des Hauskonzertes "auf", zu dem er geladen war? Wie stark hat ihn die eben gehörte Musik angerührt und geflasht? Gab es zu dem Zeitpunkt noch andere Schwingungen? War er verliebt? Hat er das Gedicht schon in das Konzert "mitgebracht" - war es vorher fertig? Ich weiß es nicht. Und wenn ich es wüsste, blieben meine Vermutungen über seine Intentionen genauso gewagt. Reicht es nicht aus, zu sagen, dass es mich anspricht? Ich suche ja auch nicht nach Erklärungen, und schon gar keinen formulierten, warum mich andere Künste/Kunstwerke ansprechen. Selbst, wenn das eine oder andere als besonders herausragend (an)erkannt wird. Warum es etwas in mir zum Schwingen bringt, weiß doch eigentlich nur mein Unterbewusstsein - und folgt man den Gesetzmäßigkeiten, weiß man: es ist in mir - oder wenigstens ein Teil davon.


herzlichst,
G.
stilz
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Re: An die Musik - genauer Wortlaut?

Beitrag von stilz »

Liebe Gwendolina,

:D ah ja.
Alles klar.

Außer, warum Du dann dennoch von einer „gebündelten Aussage“ sprichst…
Und auch, warum Dich eigentlich das, was Otto Betz sagt, „seeehr aufregt“, während das, was Rilke sagt, Dich „mitten ins Herz trifft“ –--

Muß ich denn, um eine Aussage (noch dazu eine in Worten) zu begreifen, wissen, was der Aussagende sonst noch alles gedacht/gefühlt/erlebt hat?
Ich sage: Nein. Schließlich ist ein Gedicht doch sehr viel mehr als bloß der Ausdruck einer persönlichen Lebenserfahrung…

»Das Ding ist bestimmt, das Kunst-Ding muß noch bestimmter sein; von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben, ist es dauernd geworden, fähig zur Ewigkeit.«
so schreibt Rilke (am 8. August 1903 <Sonnabend>) an Lou Andreas-Salomé – und dieses Bestimmte, jeder Unklarheit Enthobene, das läßt sich in seinen Gedichten auch aufspüren.
Gwendolina hat geschrieben:Warum es etwas in mir zum Schwingen bringt, weiß doch eigentlich nur mein Unterbewusstsein - und folgt man den Gesetzmäßigkeiten, weiß man: es ist in mir - oder wenigstens ein Teil davon.
Ja. Zunächst ist es so.
Und eben deshalb, so verstehe jedenfalls ich ihn, spricht Otto Betz von einem »Weg in unvertraute Bereiche, die von uns (noch) nicht bewohnbar sind.«.

Besonders berührt es mich, daß er das „noch“ in Klammern gesetzt hat. Ich hätte sogar noch ein Fragezeichen dazugesetzt.
Denn es ist ganz in unsere Freiheit gestellt, ob wir uns diese Bereiche bewußt bewohnbar machen - - - oder nicht.

Wenn Du, wie Du in Deinem Eingangsposting erzählst, schon ein wenig in den älteren Forumsbeiträgen geblättert hast, dann ist Dir vielleicht unsere frühere Moderatorin gliwi begegnet.
Sie hat für mich sehr treffend auf den Punkt gebracht, worum es ihr ging hier im Forum, und worum es auch mir geht:
gliwi hat geschrieben:...
dazu zwei Zitate, eines von Emil Staiger, dem großen Interpreten: "Begreifen, was uns ergreift." Und eines von Goethe. "Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen."
Gruß
gliwi
Herzlichen Gruß,
stilz
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Re: An die Musik - genauer Wortlaut?

Beitrag von Gwendolina »

So sind wir uns ja mal wieder auf wunderbare Weise einig, liebe stilz.

herzlichst,
Gwendolina
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