Seele im Raum

Rilke-Texte gesucht und gefunden

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Tonika
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Seele im Raum

Beitrag von Tonika »

Hallo,

neulich las ich das späte Rilke Gedicht "Seele im Raum". Leider finde ich es nun bei rilke.de nirgends. Könnt ihr mir weiterhelfen ?!
Wie findet Ihr dieses Gedicht ?

Tonika :D
Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird. (RMR)
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lilaloufan
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Re: Seele im Raum

Beitrag von lilaloufan »

  • Seele im Raum

    Hier bin ich, hier bin ich, Entrungene,
    taumelnd.
    Wag ich’s denn? Werf’ ich mich?

    Fähige waren schon viel
    dort, wo ich drängte. Nun wo
    auch noch die Mindesten restlos Macht vollzieh’n,
    schweigend vor Meisterschaft —:
    Wag ich’s denn ? Werf’ ich mich?

    Zwar ich ertrug, vom befangenen Körper aus,
    Nächte; ja, ich befreundete
    ihn, den irdenen, mit der Unendlichkeit;
    schluchzend
    überfloss, das ich hob,
    sein schmuckloses Herz.

    Aber nun, wem zeig ich’s,
    dass ich die Seele bin? Wen
    wundert’s?
    Plötzlich soll ich die Ewige sein,
    nicht mehr am Gegensatz haftend, nicht mehr
    Trösterin; fühlend mit nichts als
    Himmeln.

    Kaum noch geheim;
    denn unter den offenen
    allen Geheimnissen eines,
    ein ängstliches.

    O wie durchgeh’n sich die großen Umarmungen. Welche
    wird mich umfangen, welche mich weiter
    geben, mich, linkisch
    Umarmende?

    Oder vergaß ich und kann’s?
    Vergaß den erschöpflichen Aufruhr
    jener Schwerliebenden? Staun’,
    stürze aufwärts und kann’s?
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
helle
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Registriert: 6. Mai 2005, 11:08
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Re: Seele im Raum

Beitrag von helle »

Starkes Gedicht! Ziemlich emphatisch. Mir kommt es vor wie eine experimentelle poetische Reise – was, wenn die Seele sich vom Körper trennte (»nicht mehr am Gegensatz haftend«) und allerlei Eigenschaften wie Bewußtsein, Gedächtnis, Reflexions- und verschiedene Vermögen, nicht zuletzt Sprachvermögen behielte. Das Bewußtsein des Gedichts ist doch wohl die Seele selbst; sie ist es, die spricht. Wo wäre ihr Ort im Raum (ihr »hier« bzw. »dort, wo ich drängte«)?
Einiges erschließt sich mir nicht leicht: Etwa die sarkastisch (?) erscheinende Wendung »wo / auch noch die Mindesten restlos Macht vollzieh’n, / schweigend vor Meisterschaft«, und auch die elliptische Strophe »unter den offenen / allen Geheimnissen eines, / ein ängstliches«, charakterisiert die vom Körper losgelöste, vor das Ungewisse hintretende Seele so sich selbst?

h.
Paula
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Re: Seele im Raum

Beitrag von Paula »

Hallo,

gerade habe ich über Rilkes Stundenbuch meditiert, wie ich es manchmal tue in den Abendstunden:

... Und ich weiss noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang!


Nun, wie ich kurz ins Rilke Forum schaue, finde ich dieses Gedicht Seele im Raum des späten Rilke. Wie, wenn er hier noch einmal den Gedanken aus dem Stundenbuch aufgegriffen hätte und zeigte uns - natürlich viel plastischer, expressiver, woran sich ja die Entwicklung des Orpheus- und Elegien-Dichter erkennen lässt - mit der Seele - wie mit dem Falken, dem Sturm und dem großen Gesang - den Weg unserer Suche zu Gott ? Nur so ein Gedanke ! Was meint Ihr ?

Paula :D

ps.: übrigens hat auch Anselm Kiefer über den (meditativen) Raum gesprochen bei der Preisverleihung letzten Sonntag in der Frankfurter Paulskirche. Wie ich finde, eine sehr starke Rede ! Vielleicht habt Ihr es auch (im Fernsehen) anschauen können ?!
gliwi
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Re: Seele im Raum

Beitrag von gliwi »

helle, ich kann deine Interpretation sehr gut nachvollziehen. Das mit der Meisterschaft verstehe ich so: auch noch der Schlichteste "kann" sterben -als Fähigkeit -, dieweil er, Rilke, daran zweifelt, ob er es "kann", also ob seine Seele dann Fähigkeiten hat, die sie braucht und die er sich jetzt noch nicht richtig vorstellen kann.
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
Mona
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Re: Seele im Raum

Beitrag von Mona »

Hallo,

mich erinnert das Gedicht an das Unterbewußte in manchen Träumen. Dann komme ich mir manchmal so vor, wie es im Gedicht beschrieben wird.

Ich würde es weniger mit dem Stundenbuch vergleichen, vielleicht eher mit dem Ball ? Allerdings scheint es hier so, als würde die Seele selbst sich ausdrücken, die durch den Raum (den Weltinnenraum ?) schwebt.

Was meint Ihr, ob sich unsere Seelen einmal im Weltall begegnen werden ?

Mona :D
"Wie man sich lange über die Bewegung der Sonne getäuscht hat, so täuscht man sich immer noch über die Bewegung des Kommenden. Die Zukunft steht fest,... wir aber bewegen uns im unendlichen Raume."(RMR)
gliwi
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Re: Seele im Raum

Beitrag von gliwi »

Mona hat geschrieben: Was meint Ihr, ob sich unsere Seelen einmal im Weltall begegnen werden ?

Mona :D
Ein "Begegnen" in unserem Sinne setzt Zeit und Raum voraus. Wenn es aber ein "Jenseits" gibt, dann ist es auch jenseits von Raum und Zeit, dann ist ein "Begegnen" in unserem Sinne nicht möglich, aber vielleicht in einem, der uns als an Raum und Zeit gebundenen nicht vorstellbar ist.
Gruß
gliwi
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