Die Toten sterben nicht von uns weg, sie gehen mitten in unser Herz hinein.

Rilke-Texte gesucht und gefunden

Moderatoren: Thilo, stilz

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AndreaR
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Die Toten sterben nicht von uns weg, sie gehen mitten in unser Herz hinein.

Beitrag von AndreaR »

Liebe Rilke-Kenner:innen

Gabriele von Arnim verweist in ihrem Buch "Das Leben ist ein vorübergehender Zustand" auf Rilke, der irgendwo gesagt habe, dass die Toten in uns hinein sterben. Im Internet auf Seiten von Bestattern, Aphorismenseiten etc. findet sich "Die Toten sterben nicht von uns weg, sie gehen mitten in unser Herz hinein", selbstredend ohne Quellenangaben :roll: .
Vielleicht habt Ihr eine Idee, woraus dieses Zitat oder dieser Gedanke sein könnte?

Herzlichen Dank und liebe Grüsse

Andrea
helle
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Registriert: 6. Mai 2005, 11:08
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Re: Die Toten sterben nicht von uns weg, sie gehen mitten in unser Herz hinein.

Beitrag von helle »

Es könnte das Gedicht "Schlußstück" gemeint sein.

Du findest es hier: viewtopic.php?t=1379
mit einigen Diskussionsbeiträgen dazu.

Schöne Grüße,
helle
AndreaR
Beiträge: 3
Registriert: 29. Nov 2022, 07:30

Re: Die Toten sterben nicht von uns weg, sie gehen mitten in unser Herz hinein.

Beitrag von AndreaR »

Danke, helle, für den Hinweis!
Ganz überzeugt mich dieses Gedicht als Quelle nicht ...
Liebe Grüsse
Andrea
helle
Beiträge: 342
Registriert: 6. Mai 2005, 11:08
Wohnort: Norddeutsche Tiefebene

Re: Die Toten sterben nicht von uns weg, sie gehen mitten in unser Herz hinein.

Beitrag von helle »

Nein, mich auch nicht. Leider sind diese falschen Zitate im Netz eine Seuche, ich spreche da tatsächlich aus Erfahrung, wir haben es mal im Team bei einem prominenten Autor des 18. Jahrhunderts untersucht, aber je weiter man kommt, desto deprimierender wird es, es ist die sprichwörtliche Hydra.

Was man tun könnte: Die komplett erfundenen, korrupten, falsch zugeschriebenen pp. Zitate an Netzadressen wie https://falschzitate.blogspot.com/ senden. Dort steht allerdings unter dem "Label" Rilke aktuell nur ein Eintrag. Auch hier im Forum wurde das Thema vor kurzem berührt (viewtopic.php?f=11&t=6392), ich vermute, in den Beiträgen der Vorjahre auch häufiger.

Was das hier in Frage stehende Zitat angeht, erscheint mir bereits das Wort "weg" ("Die Toten sterben nicht von uns weg") ziemlich non-Rilke-like.
Wenn man unter google books das betreffende Zitat in Anführungszeichen angibt, vergleichsweise eine der zuverlässigeren Suchmethoden, wird man in keinem Fall auf ein Werk Rilkes geführt, wohl aber bin ich bei einer von verschiedenen Zitatvarianten bei - genau, Gabriele von Arnim gelandet.

Schöne Grüße, helle
AndreaR
Beiträge: 3
Registriert: 29. Nov 2022, 07:30

Re: Die Toten sterben nicht von uns weg, sie gehen mitten in unser Herz hinein.

Beitrag von AndreaR »

Ich hab's ja geahnt :roll:
Herzlichen Dank, helle, für Deine Mühe!
stilz
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Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
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Re: Die Toten sterben nicht von uns weg, sie gehen mitten in unser Herz hinein.

Beitrag von stilz »

Auch mich hat dieses angebliche Zitat beschäftigt, und auch ich habe bisher nichts dergleichen gefunden.
Sogar ganz im Gegenteil:
Im Requiem für eine Freundin heißt es:
  • Ich habe Tote, und ich ließ sie hin
    und war erstaunt, sie so getrost zu sehn,
    so rasch zuhaus im Totsein, so gerecht,
    so anders als ihr Ruf. Nur du, du kehrst
    zurück; du streifst mich, du gehst um, du willst
    an etwas stoßen, daß es klingt von dir
    und dich verrät.
    […]
    Ich habe recht; du irrst
    wenn du gerührt zu irgend einem Ding
    ein Heimweh hast.
    […]
    Doch daß du selbst erschrakst und auch noch jetzt
    den Schrecken hast, wo Schrecken nicht mehr gilt;
    daß du von deiner Ewigkeit ein Stück
    verlierst und hier hereintrittst, Freundin, hier,
    wo alles noch nicht ist; daß du zerstreut,
    zum ersten Mal im All zerstreut und halb,
    den Aufgang der unendlichen Naturen
    nicht so ergriffst wie hier ein jedes Ding;
    daß aus dem Kreislauf, der dich schon empfing,
    die stumme Schwerkraft irgend einer Unruh
    dich niederzieht zur abgezählten Zeit -:
    dies weckt mich nachts oft wie ein Dieb, der einbricht.
Spricht das nicht von einer ganz anderen Anschauung als »Die Toten gehen ("normalerweise", Anm stilz) mitten in unser Herz hinein?«
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
helle
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Re: Die Toten sterben nicht von uns weg, sie gehen mitten in unser Herz hinein.

Beitrag von helle »

Hallo stilz,

das von Dir eingefügte »normalerweise« benennt wohl das Problem. Es wird für alle damit verbundenen Fragen hier kaum zureichende Antworten geben und ich beziehe mich angesichts der weitreichenden Fragestellung und des Umfangs des Requiems nur auf die hier angeführten Zeilen.

Deutlich unterscheidet Rilke seine Auffassung vom Tod und seine Art des Umgangs mit Verstorbenen von dem, was man gemeinhin darüber denkt. Natürlich hat er sich schon früh und in vielfacher Hinsicht von den üblichen Auffassungen abgesetzt, in Gedichten wie »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort«, im »Malte« (»Ist es möglich«) usf., das gehört sich eigentlich auch für einen Autor, nicht nur der Jahrhundertwende, als das Denken Nietzsches noch allgegenwärtig war. Im »Requiem« ist die Distanzierung von landläufigen Vorstellungen gleich zu Beginn zu sehen. Niemand spräche wohl davon, Tote zu »haben«, so wie man Kinder oder Freunde hat, i.d.R. bezieht sich das Verb auf Lebende bzw. würde man im Sprechen über Verstorbene ein ›gekannt‹, ›erfahren‹, ›beklagen müssen‹ oder wie immer als Partizip ergänzen. Diese erste, von Zweifeln nicht angefressene und fast herrische Abgrenzung vom alltäglichen Wahrnehmen und Sprechen schildert mit scheinbarer Selbstverständlichkeit die Erfahrung des Sprechenden in seinem Umgang mit den Toten. Ihnen sind Attribute zugesprochen, die ihnen wie von Natur aus zu gehören scheinen: »gerecht« zu sein, im Totenreich »zuhaus« und andere mehr; so, als wäre ihr Verhalten unabhängig von der persönlichen und subjektiven Zusprechung des Autors. Vielmehr erscheint dessen eigene Sicht als ein Objektives. Von diesem allgemeinen Dasein der Toten (oder besser: seiner Toten) nimmt das Bewußtseins des Gedichts die mit ›du‹ angesprochene Freundin ausdrücklich aus: ihre Ausnahme bestätigt seine Regel. Andere Tote haben seinen Frieden nicht gestört, seine Nachtruhe nicht unterbrochen, sein Gewissen nicht belastet.

Kehrt man zur Ausgangsfrage zurück, scheint der Tod der »Freundin« (daran, daß sie es war, besteht trotz der Krisen und Enttäuschungen dieser Freundschaft kein Zweifel) dem Sprecher des Gedichts nun doch, anders als ›normalerweise‹, ›mitten ins Herz‹ zu gehen. Vielleicht kann man eher noch von ›Gewissen‹ als von ›Herz‹ sprechen. Die Attribute, die der Verstorbenen zugeeignet werden, lassen an eine Lebende denken: Nicht nur, daß sie »umgeht«, wie man allgemein von Geistern sagt, sie handelt willentlich, sie »streift« das Ich des Gedichts, stößt an etwas an, erschrickt, tritt herein oder wird niedergezogen. Auch diese Bewegungen der Unruhe schildert das Gedicht als ein Tatsächliches, eher wie Feststellungen denn als Eindrücke. Die Möglichkeit, daß sie durch Wahrnehmung und Gefühl des Sprechers erst hervorgerufen, zumindest aber verstärkt und schlimmstenfalls eingebildet sein könnten, steht nicht in Betracht. Das Gedicht stellt poetische Behauptungen auf – als solche müssen sie nicht belegt werden, schließlich sind es keine juristischen oder wie immer des Belegs bedürftigen Aussagen, dennoch erscheinen sie axiomatisch (wie vergleichbar Rilkes Rede von den Engeln). Über ihre Gültigkeit, ihre Evidenz, Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit entscheidet allerdings nicht mehr und nicht allein der Dichter, sondern auch und zunehmend sein Publikum.

- Andere Frage: Ob der Name Paula Modersohn Becker von Rilke selbst in Klammern hinzugefügt wurde oder von Herausgebern (mal mit, mal ohne Bindestrich), habe ich nicht herausgefunden. Die »Freundin« würde damit als unverwechselbare historische Person erkennbar. Das spielt auch eine Rolle in der Frage, ob Otto Modersohn im Gedicht angesprochen ist, wie stilz an anderer Stelle bestritten hat:
Den klagt er allerdings ausdrücklich nicht an, weil er nicht mit Modersohn persönlich hadert, sondern mit "dem Mann" im allgemeinen.
Das ist menschlich vornehm, aber in der Sache diskussionswürdig. Otto Modersohn hat mehr für das Werk Paulas getan und ihr Ingenium früher erkannt als jeder andere.


helle
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